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Freitag, 19. April 2024

Geschichte


 

Quelle: www.sovetsk-tilsit.ru

Rückkehr zu den Wurzeln

Die Stadt Tilsit führt wieder das alte Tilsiter Stadtwappen, das Herzog Albrecht im Jahre 1552 der Stadt verliehen hatte.

Der Beschluss der russischen Stadtvertreterversammlung wurde vom Präsidenten der Russischen Föderation gebilligt und mit der Eintragung in das Staatliche Wappenregister sanktioniert. Die neue Stadtflagge zeigt die historischen Tilsiter Farben Grün, Weiß und Rot quergestreift mit dem Wappen von 1552 in der Mitte.

H.Dz.

Wie aus Tilsit Sovetsk wurde

Ein Beitrag zur Geschichte der Stadt in den Jahren 1945-1948

Am 20. Januar 1945 wurde Tilsit von der Roten Armee besetzt. Von drei Seiten in die Zange genommen -von Birjohlen, von Tilsit-Preußen und über die Memel bei Schwedenfeld - fiel die Stadt nach kurzen, aber heftigen Gefechten. Als die russischen Truppen am 20. Januar nachmittags weiterzogen, blieb hinter ihnen ein toter Ort, menschenleer und gespenstisch still. Die Zivilbevölkerung hatte schon vor Wochen Tilsit verlassen und nun waren auch die letzten deutschen Soldaten kämpfend in Richtung Königsberg zurückgegangen.
Ein brandiger Geruch lag über der einst so schönen Stadt. Sie war von Blessuren arg gezeichnet, aber sie hatte den Krieg überlebt. Alle Gebäude, die das Stadtbild so eindrucksvoll prägten, die Ordenskirche, das Rathaus, das Landratsamt, die Litauische Kirche, und das Ensemble der Hohen Straße, alles war in seiner Substanz noch vorhanden, wenn auch Granateinschläge und Bomben schwere Spuren hinterlassen hatten. Besonders schlimm sah es in der Deutschen Straße aus, die viele Wochen unter dem Beschuß der russischen Artillerie lag. Überall schwelten und flackerten kleine Brände. Niemand kümmerte sich mehr darum. Tilsit schien sich selbst und seinem Schicksal überlassen. Es war in jenen Januartagen eine Stadt ohne Leben.
Die ersten, die wieder Betriebsamkeit in die Geisterstadt brachten, waren russische Pioniereinheiten. Sie hatten den Auftrag, eine Pontonbrücke über die Memel zu errichten, um den Nachschub für die sich zum Sturm auf Königsberg rüstenden Sowjettruppen sicherzustellen. Mit der Fertigstellung dieser bedeutsamen Verkehrsader wurde es langsam lebendig in der Stadt. Rückwärtige Militäreinheiten und Stäbe nahmen von dem reichlich vorhandenen und gut ausgestatteten Wohnraum Besitz und begannen sich einzurichten. Der Krieg ging seinem Ende entgegen.
Im Mai 1945, als die letzten Schüsse des Krieges verhallt waren, tauchten die ersten Tilsiter wieder in ihrer Stadt auf. Es waren Menschen, die man zunächst in andere Gegenden Ostpreußens evakuiert hatte, die aber die Flucht ins Reich nicht mehr geschafft hatten und von der Roten Armee überrollt worden waren. In der Hoffnung auf eine Normalisierung des Lebens schlugen sie sich in beschwerlichen Fußmärschen zu ihrer Heimatstadt durch. Es kamen ferner Leute aus den Dörfern der Elchniederung, die durch den Ausfall der Wasserregulierung von schlimmen Überschwemmungen heimgesucht waren. Ja, es kamen sogar Tilsiter, die auf ihrer Flucht bereits bis Sachsen oder Mecklenburg gelangt waren und nun nach Kriegsende wieder ihrer Heimat zustrebten. Eine von ihnen war Betty Keßler, die unter dem Namen Ljadenko heute noch dort in der Gr. Gerberstraße wohnt.
Es war nicht mehr das alte Tilsit, in das die Deutschen zögernd ihren Fuß setzten. Fremdes Leben und ungewohnte Zustände erwarteten die Tilsiter. Ihre Wohnungen waren in den meisten Fällen besetzt, und Recht und Gesetz galten nicht mehr für sie. In der Stadt herrschte das Militärregime. Repräsentant der Macht war der Stadtkommandant, Oberst Alexejew. Für ihn waren die Deutschen bestenfalls billige Arbeitskräfte. Die für die Deutschen ungeklärte Rechtslage führte nicht selten zu Willkürakten sowohl von seifen einzelner Dienststellen wie auch von Einzelpersonen. Am besten war es, den Russen nicht in die Quere zu kommen. Deshalb siedelte man sich tunlichst in solchen Stadtteilen an, die nicht so sehr das Interesse der Russen fanden wie z. B. in der Tilsiter  „Freiheit" an der Ragniter Straße.
Um die Jahreswende 1945/1946 belief sich die Zahl der deutschen Einwohner auf 1659, darunter 328 Kinder bis zu 16 Jahren. Zu essen erhielt nur, wer zum Arbeitseinsatz erschien. Der Einsatz erfolgte in der ersten Zeit in geschlossenen Kolonnen bei der Straßenräumung und beim Schienenbau. Täglich marschierten früh und abends auch 2000 deutsche und österreichi-
sche Kriegsgefangene durch die Stadt. Sie waren in einem Lager in der Rosenstraße untergebracht, auf dem Gelände der Herzog-Albrecht-Schule, und wurden zu Aufräumungsarbeiten in der schwer zerstörten ZellstoffFabrik eingesetzt.
Die Zellstoff-Fabrik erregte von Anbeginn das besondere Interesse der Russen. Sie sollte in der weiteren Entwicklung der Stadt eine gewichtige Rolle spielen. Sie schien so bedeutsam, daß unmittelbar nach Kriegsende durch das Moskauer Ministerium für Zellstoff- und Papierindustrie ein Sonderbeauftragter eingesetzt wurde: Oberst Gorbunow. Er begann unverzüglich mit der Heranziehung von Fachleuten. Die ersten Spezialisten waren Schlosser, Schweißer und Mechaniker und kamen 1945 im Parteiauftrag aus verschiedenen Rüstungsbetrieben Zentralrußlands. Weitere Werbe maßnahmen liefen unter den in Ostpreußen demobilisierten Soldaten. Ihnen wurde die Übereignung von Wohnraum zugesagt, dessen Kaufsumme in zehn Jahresraten abzuzahlen war.
Der rasch wachsende Arbeitskräftebedarf führte im Spätherbst 1945 zu größeren Werbekampagnen in Zentralrußland. Die Werbung lief unter der Bezeichnung „Arbeitseinsatz im Ausland". Die Arbeitswilligen erhielten ein Handgeld, und, was in dieser Periode noch wichtiger war, Brotkarten. Im November/Dezember 1945 trafen zahlreiche Transporte aus Smolensk, Kalinin und Welikije Luki auf dem Bahnhof Insterburg ein, von wo aus der Weitertransport mit Armee-Lkw vorgenommen wurde. Das Tilsiter Auffang und Quarantänelager befand sich im Gymnasium in der Oberst-Hoffmann Straße. Von hier aus wurde der Arbeitseinsatz vorgenommen.

Zum Direktor der Tilsiter Zellstoff-Fabrik berief man Oberst Lukjanow. Unter seiner Leitung gingen die Arbeiten zur Inbetriebnahme der Fabrik recht zügig voran und prägten das künftige Leben der Stadt. An Unterbringungs möglichkeiten mangelte es nicht. Leestehende Wohnungen waren ja vorhanden,für russische Verhältnisse eine keineswegs übliche Situation.
Dennoch fühlten sich die Neuankömmlinge in der ungewohnten Umgebung fremd. Straßenpflaster aus Stein, ziegelgedeckte Dächer mit Türmchen, unbekannte Denkmäler und deutsche Aufschriften, das alles war für sie Feindesland. An den deutschen emaillierten Straßenschildern und den Denkmälern ließ man nicht selten seinen Haß aus. Abends war die Stadt menschenleer. Es gab weder Licht noch Wasser.
Schlimme Auswirkungen zeigte der harte Winter 1945/46. In die deutschen Kachelöfen wurde alles Greif- und Brennbare hineingestopft. Besonders schlimm ging es in jenen Häusern zu, die von der Armee belegt waren. Türen, Möbel, Bücher - alles wurde nach Landserart verfeuert. Oft kamen auch die Dielenbretter noch dran. Niemand war da, der diesem Treiben Einhalt gebot.
Im Mai 1946 sah man sich schließlich genötigt, das Militärregime aufzulösen und eine Zivilverwaltung einzusetzen. Der Kommandant mußte die Befehls gewalt dem neuen Chef Swerew übergeben.
Swerew sah eine vordringliche Aufgabe darin, den fortschreitenden Raubbau am noch vorhandenen Gebäudebestand zu stoppen. Es war nämlich inzwischen gang und gäbe geworden, ganze Einrichtungen zu demontieren. Nach allem, was aus Holz war, verschwanden zunehmend auch Badewannen, WC- und Waschbecken, Öfen, Wasser- und Abflußrohre. Im Befehl Nr. 16 vom 13. 7. 46 wies Swerew seinen Wohnungs-Chef Kuprin an, der Zerstörung von Wohnraum Einhalt zu gebieten und eine Kontrolle über die ordnungsgemäße Zuweisung, Nutzung und Erhaltung von Wohnraum einzuführen.
Dieser Befehl blieb allerdings nur ein Stück Papier, denn in den Folgemonaten wurde das Treiben noch schlimmer. Davon zeugen viele Vorkommnisse, von denen nur einige stellvertretend genannt sein sollen: Armeeangehörige wurden gestellt, als sie widerrechtlich Einrichtungen der Stadtbücherei und des Stadttheaters ausbauten. Soldaten des 12. Motorschützenregiments demontierten auf Anweisung ihres Vorgesetzten ein Haus in der Jägerstraße. Ein Major Tschernitschenko wurde gestellt, als er das Haus Splitterer Straße 42 ausschlachtete. In der Wohnung eines Major Gawrilow wurden vier Türen samt Rahmen und zehn Fensterrahmen, zu Feuerholz zerhackt, entdeckt. Solche und andere Beispiele gaben Anlaß, in einem erneuten Befehl Nr. 51a vom 15.11.46 energisch zu fordern, gegen Zerstörung, Plünderung und Raub ohne Ansehen der Person vorzugehen.
Das Treiben in der Stadt wandte sich kaum zum Besseren. Bewaffnete Soldaten überfielen Ende 1946 das Wohnhaus eines Abteilungsleiters der Zivilverwaltung und erschossen ein Ferkel. Während der Revolutionsfeierlichkeiten am 7. und 8. November 1946 wurden fünf Militärangehörige und vier Zivilisten mit Schußverletzungen und Messerstichen in das Tilsiter
Garnisonslazarett eingeliefert. Statt einer Normalisierung der Zustände nahmen Überfälle und Rowdytum weiter zu. Das hing wohl nicht zuletzt auch damit zusammen, daß man in mehreren Fällen Transporte mit vorzeitig entlassenen Sträflingen zur Ansiedlung nach Ostpreußen in Marsch setzte. Tilsit war nicht mehr Tilsit, auch wenn es immer noch so hieß. Aber auch damit wurde nun Schluß gemacht. Laut Erlaß des Präsidiums des Obersten
Sowjet der RSFSR vom 7. 9. 1946 verlor Tilsit seinen Namen und hieß fortan Sowjetsk.
Die Einwohnerstatistik vom November 1946 wies 11 265 Russen und 2100 Deutsche aus. Angesichts des deutschen Bevölkerungsanteils von 16% sah sich die russische Zivilverwaltung veranlaßt, den Deutschen eine gewisse Aufmerksamkeit zuteil werden zu lassen. Ein Krankenhaus für deutsche Erwachsene wurde in der Freiheiter Schule, ein weiteres für deutsche Kinder in der Altstädtischen Schule eingerichtet. Chefarzt Dr. Knuth leistete an diesen Einrichtungen eine hingebungsvolle Arbeit.
Auch im Schulbetrieb konnte man die Deutschen nicht ausklammern. Von den fünf in Betrieb genommenen Schulen (2 Grundschulen, 2 Siebenklas senschulen, 1 Mittelschule) wurde eine Siebenklassenschule für die deutschen Kinder bestimmt. Als Lehrer waren die Herren Schieder und Jakubeit tätig. Fast schien es so, als sollte das Leben nun wieder normal werden. Neue Hoffnung kam bei den Tilsitern auf.
Doch die Hoffnung trog. Der Zustrom russischer Neusiedler hielt unvermindert an. Da waren die Deutschen nur im Wege. In der Kaliningrader Gebietsverwaltung dachte man bereits über deren Abschiebung nach. Um das Gebiet endgültig zu ossifizieren wurden 1947 überall, auch in Tilsit, sowjetische Verwaltungsstrukturen eingeführt. Im Juni 1947 nahm ein sogenanntes Exekutivkommitee des Stadtsowjets unter seinem Vorsitzenden Brjagin die Arbeit auf.
  Eine der Aufgaben bestand im Bau einer neuen Brücke über die Memel. Das von Pionieren gebaute Provisorium war im Frühjahr 1946 bei Hochwasser davongeschwommen. Die Ordenskirche wurde zu einem Sägewerk umfunktioniert, in dem die für den Brückenbau erforderlichen Balken und Verschalungen zugeschnitten wurden. Das Holz kam aus dem Trappöhner Forst. Schweißspezialisten aus Kiew beseitigten die teilweise unter Wasser liegen-
den Brückenbogenteile der Luisenbrücke. Betonierer verstärkten die Pfeiler. Die neue Brücke war zwar nicht für die Ewigkeit gebaut, aber immerhin stand sie 18 Jahre bis 1965.

In der Zellstoffabrik wurden die letzten Vorbereitungen zur Produktionsaufnahme getroffen. 1948 wurde das erste Packpapier hergestellt. Die Belegschaft war auf über zweitausend russische Beschäftigte angewachsen. Die Deutschen waren überflüssig geworden. Sie erhielten keine Arbeitsverträge und schlugen sich mit Hilfsarbeiten durch. In einem Bericht der Kaliningrader Gebietsverwaltung, Nr. 00515 hieß es, daß die deutsche Bevölkerung die Erschließung des neuen sowjetischen Gebiets negativ beeinflusse und eine organisierte Aussiedlung für zweckmäßig gehalten wurde.
Mit dem Beschluß des Ministerrates der UdSSR Nr. 3547-11695 „Über die Aussiedlung der Deutschen aus dem Kaliningrader Gebiet" wurde dem Rechnung getragen.
830 Tilsiter wurden in den letzten Wochen des Jahres 1947 in den Westen ausgewiesen. Der Rest folgte im Jahr darauf.
Der Befehl zum Abtransport wurde mit gemischten Gefühlen, überwiegend aber mit Erleichterung aufgenommen. Die Tilsiter spürten es nur zu deutlich: Sie waren zu Fremden in ihrer Vaterstadt geworden. Sie waren die Verlierer. Insgesamt verließen im Laufe des Jahres 1948 achtundvierzig Eisenbahnzüge mit 102 125 Deutschen das nördliche Ostpreußen. Darunter waren auch die letzten Tilsiter. Was sie zurückließen, waren schmerzliche Erinne-
rungen und ihre Toten, um deren Gräber sich niemand mehr kümmerte. In den Abschiedsschmerz mischte sich die Hoffnung, nun endlich zur Ruhe zu kommen und in Deutschland eine neue Heimat zu finden. So manchem war bewußt, daß er seine Heimat vielleicht nie mehr Wiedersehen würde. Das nördliche Ostpreußen wurde zum Sperrgebiet. Über vierzig Jahre sollte es dauern, bis die Tilsiter in ungebrochener Heimatliebe legal wieder in ihre alte Vaterstadt reisen durften. Was sie wiederfanden, war eine Stadt in fremdem Gewand. Man fühlte noch die jahrhundertealte deutsche Vergangenheit, man begegnete aber auch auf Schritt und Tritt der sowjetischen Gegenwart. Es war Sowjetsk!
Aber auch in Sowjetsk hat man begonnen, sich auf die Geschichte, Tradition
und Kultur der Stadt Tilsit zu besinnen. Und das ist gut so!

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Dieser Artikel stützt sich auf russische Dokumente und Archivunterlagen, die
von Heimatforscher Isaak Rutman zusammengetragen und von Hans
Dzieran übersetzt und aufbereitet worden sind.

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