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Donnerstag, 21. November 2024

Alltagswelt in Tilsit und Ostpreussen

Die Geschichte des Raddampfers Grenzland

„Die Reederei Wilhelm Skorloff meldet:

Ab  sofort  wieder  an  jedem  Dienstag  die  beliebten  Mondscheinfahrten  mit  Musik  und Tanz auf Dampfer GRENZLAND. Abfahrt 20.00 Uhr, Tilsit, Hafenspeicher."

So  und  ähnlich  wurde  in  den  Tilsiter  Tageszeitungen  und  Werbeschriften  eine  Veranstaltung angekündigt, die insbesondere bei der Jugend zu den beliebtesten und bekanntesten  des  Tilsiter  Sommerprogramms  gehörte.  Eine  Idee  des  Reeders  Wil- helm  Skorloff  hatte  gezündet.  Die  lauen  ostpreußischen  Sommerabende  und  die  Me- mel  boten  geradezu  ideale  Voraussetzungen  für  eine  solche  Mondscheinfahrt.  Über zu  geringe  Beteiligung  brauchte  sich  die  Schiffsbesatzung  nicht  zu  beklagen.  Bereits um   19.30   Uhr   herrschte   reges   Leben   am   Memelkai   zwischen   Hafenspeicher   und Luisenbrücke.  Das  Oberdeck  war  bengalisch  beleuchtet.  Die  Musik  war  weithin  hör- bar.  Es  ging  memelaufwärts,  etwa  bis  zum  Rombinus  und  wieder  zurück.  Nicht  immer war  eine  solche  Fahrt  vom  Mondenschein  begleitet.  Zuweilen  mußten  die  Teilnehmer ein  heftiges  Gewitter  als  außerplanmäßige  Einlage  über  sich  ergehen  lassen.  Doch das  tat  der  guten  Stimmung  keinen  Abbruch,  denn  unter  Deck  wurde  niemand  naß. Ein solches Gewitter ging in der Regel schnell vorüber. Es bildete sozusagen eine Zwangspause für die Tanzfreudigen auf dem Oberdeck
Jeder,  der  einst  eine  solche  Mondscheinfahrt  miterlebte,  wird  gerne  zurückdenken  an jene Sommerabende auf der Memel und an den Dampfer „Grenzland".
Die  „Grenzland"  war  nicht  das  schnellste,  wohl  aber  das  größte  Passagierschiff  der Memelflotte   und   der   größte   Binnendampfer   im   nördlichen   Ostpreußen   überhaupt. Schon   rein   äußerlich   war   die   „Grenzland"   von   den   übrigen   Tilsiter   Raddampfern leicht   zu   unterscheiden.   Seine   breite,   gedrungene   Form   mit   den   weitausladenden Radkästen,  dem  großen  Oberdeck  und  dem  gelben  Schornstein  mit  der  Elchschaufel waren seine besonderen Merkmale.
Bevor   der   Dampfer   „Grenzland"   die   Memelflotte   verstärkte,   hatte   er   bereits   einen weiten Weg und ein umfangreiches Veranstaltungsprogramm hinter sich.
Im  Jahre  1904  wurde  auf  der  Schmiliejinski-Werft  in  Hamburg  kurz  vor  dem  Stapel- lauf  ein  Schiff  auf  den  Namen  „Freya"  getauft,  nachdem  bereits  vier  Jahre  zuvor  ein gleiches  Schiff  namens  „Frisia"  fertiggestellt  wurde.  Beide  Raddampfer  brachten  täg- lich   sonnenhungrige   Urlauber   und   Tagesausflügler   vom   Festland   zur   Nordfriesen- Insel  Sylt  und  zurück.  Ab  1927  pendelten  die  beiden  Dampfer  —  jetzt  unter  den  Na- men „Adam" und „Eva" zwischen Lübeck und Travemünde
Der  Sohn  einer  aus  Russ  stammenden  Schifferfamilie,  Wilhelm  Skorloff,  kaufte  die
„Eva",  überführte  sie  nach  Tilsit/Ostpr.  und  taufte  sie  auf  den  Namen  „Grenzland". Die   „Grenzland"   wurde   hier   nicht   in   den   planmäßigen   Linienverkehr   einbezogen, sondern   überwiegend   für   Sonder-   und   Charterfahrten   eingesetzt.   Hierzu   gehörten auch  die  anfangs  erwähnten  Mondscheinfahrten.  Zu  den  beliebtesten  Zielen  gehörten: Der  Rombinus  und  Obereißeln  im  Osten  sowie  Russ,  Karkeln  und  die  Kurische  Neh- rung  im  Westen.  Wegen  seiner  Größe  wurde  der  Dampfer  gerne  für  Schulausflüge gechartert.  So  manches  Tilsiter  Schulkind  wird  die  erste  Dampferfahrt  seines  Lebens auf  der  „Grenzland"  erlebt  haben.  Die  Fahrten,  insbesondere  zur  Kurischen  Nehrung, dauerten  oft  viele  Stunden.  Besonders  unsere  Knaben  werden  sich  während  einer solchen  Fahrt  nicht  nur  für  die  reizvolle  Landschaft,  sondern  auch  für  die  Technik interessiert  haben,  die  mit  diesem  Dampfer  verbunden  war.  Einige  Luken  im  Inneren dieses  Schiffes  gewährten  jedem  interessierten  Passagier  Einblick  in  den  Maschinen- raum.  Viele  unserer  Leser  werden  bestätigen  können,  daß  sie  an  jenen  Luken  dieses Schiffes  zum  ersten  Male  mit  der  Funktion  einer  großen  Dampfmaschine  konfrontiert wurden  —  einer  Maschine,  die  ihre  Dampfkraft  über  die  Pleuelstangen  auf  eine  blitze- blanke    Kurbelwelle    und    schließlich    auf    die    großen    Schaufelräder    übertrug. Die  Ausflugsfahrten  wurden  auch  während  des  Krieges  —  wenn  vielleicht  auch  mit etwas vermindertem Programm — noch durchgeführt.
Im  Sommer  1944  kam  auch  für  den  Binnendampfer  „Grenzland"  die  Stunde  der  Be- währung.  Von  nun  an  galt  es  nicht  mehr,  unternehmungslustige  Ausflügler  zu  trans- portieren,  sondern  Menschenleben  zu  retten.  Unter  Führung  von  Kapitän  Joh  wurde der  Dampfer  zum  Transport  von  Verwundeten  und  Flüchtlingen  entlang  der  Kurischen Nehrung  von  Memel  nach  Cranzbeek  eingesetzt.  Später  reichte  der  Transportweg  von Memel bis nach Tolkemitt am Frischen Haff. Im November 1944 brachte Kapitän Joh das  Schiff  unversehrt  nach  Pillau.  Es  folgte  das  Fluchtdrama  über  das  Frische  Haff. Reeder  Skorloff  verblieb  auf  M.  S.  „Herbert"  und  Kapitän  Joh  auf  Dampfer  „Grenz- land"  bis  Ende  April  in  Pillau.  „Grenzland"  wurde  von  Pillau  aus  eingesetzt,  um  Ver- wundete  von  Braunsberg  nach  Pillau  zu  holen.  Inzwischen  waren  die  Russen  bereits in  bedenkliche  Nähe  gerückt.  Wiederholt  wurde  das  Schiff  beschossen,  doch  es  lief immer  wieder  von  Pillau  aus,  um  weitere  Menschenleben  zu  retten.  Dank  der mutigen und  umsichtigen  Führung  von  Kapitän  Joh  kam  es  immer  wieder  unversehrt  nach Pillau  zurück.  Jetzt  mußten  sich  die  Binnenschiffe  „Herbert"  und  „Grenzland"  auch auf  See  bewähren.  Als  letzte  Zivilschiffe  konnten  „Herbert"  und „Grenzland" unter Füh- rung  von  Wilhelm  Skorloff  und  Kapitän  Joh  den  Hafen  Pillau  mit  Marschbefehl  nach Heia verlassen. Über die Ostsee und mehrere Umwege gelangten die Schiffe schließlich nach  Westen.  Die  „Grenzland"  erhielt  nach  dem  Kriege  in  Hamburg  einen  festen Liegeplatz und wurde für kurze Zeit als Reisebüro vermietet. Von 1946 bis zur Wäh- rungsreform verkehrte die „Grenzland" — wie bereits 20 Jahre zuvor — auf der Linie Lübeck—Travemünde. Danach war geplant, das Schiff von Emden aus für den See- bäderverkehr  zu  den  Ostfriesischen  Inseln  einzusetzen.  Doch  dieser  Plan  mißlang  we- gen zu starker Konkurrenz.
So  erhielt  die  „Grenzland"  einen  festen  Liegeplatz  am  Ratsdelft  im  Hafen  von  Emden und wurde nach Ausbau der Maschinen zu einem Gaststättenschiff, das zugleich als Wartehalle  für  die  Omnibusreisenden  diente,  umfunktioniert.  Der  Name  „Grenzland" blieb   erhalten,   denn   auch   Emden   ist   Grenzland.   So   wurde   das   „Gaststättenschiff Grenzland"  zu  einem  vertrauten  Objekt  im  Hafen  von  Emden.  Als  Wilhelm  Skorloff sich  im  Jahre  1966  zur  Ruhe  setzte,  verkaufte  er  das  Gaststättenschiff  nach  Holland, wo   es   von   einer   kirchlichen   Vereinigung  als   Freizeiterholungsstätte  genutzt   wurde. Reeder  Skorloff  und  Kapitän  Joh  sind  inzwischen  verstorben.  Die  Gattin  des  Reeders, Frau Margarete Skorloff, lebt heute noch in Emden.
Die  „Grenzland"  ist  einige  Zeit  nach  dem  Verkauf  durch  eine  Unachtsamkeit  in  einem Waal-Arm gesunken. Damit versank zugleich ein Stückchen Tilsiter Memelschiffahrt.— Geblieben  aber  ist  die  Erinnerung  an  die  Tilsiter  Dampfschiffahrt  und  an  ein  bißchen„Mondscheinromantik" auf der Memel.          Ingolf Koehler

 

 

 

Erste Dampferfahrt

Der Raddampfer GRENZLAND vor dem Tilsiter Memelufer in Höhe der Packhofstraße.
Die Haffdörfer als beliebtes Ziel für Schulausflüge.

Fast in jedem Jahr, kurz vor den großen Ferien, haben viele Schulen eine Ausflugsfahrt mit dem Dampfer auf der Memel zu den bekannten Ausflugsorten organisiert. Da ging es mal zum Rombinus oder nach Obereisseln stromaufwärts. Stromabwärts ging es dann nach Gilge-Nemonien oder über's Haff nach Nidden oder Schwarzort.
 Wir wurden meistens von der Anlegestelle Bei Onkel Bräsig" am Damm eingeschifft, so auch an einem schönen Samstagmorgen um 5 Uhr in der Frühe. Die Rückkehr war dann am selben Abend so gegen 24 Uhr. Wir hatten nun den Dampfer „Grenzland" bestiegen, und ab ging die Fahrt nach Nemonien. Die Bordkapelle spielte das Lied „Nun ade, du mein lieb Heimatland" und alle Gäste sangen kräftig mit. Sie winkten mit den Tüchern den an der Anlegestelle zurückgebliebenen Verwandten und Bekannten zu.
 Für unsere Klasse war es die erste Dampferfahrt mit unseren Lehrern, Eltern und Geschwistern. Tagelang hatten wir uns auf diesen Tag gefreut mit der Frage, was wir wohl so alles sehen und erleben würden. Kaum auf dem Dampfer, war unsere Neugier groß. Wir mußten das Schiff gleich inspizieren. Hier waren für uns die riesigen Kurbelwellen mit ihren rhythmischen Bewegungen interessant. Dann begaben wir uns nach achtern, wo die bunten Fahnen wehten. Von hier aus konnten wir die Wellenberge vom Fahrwasser unseres Dampfers beobachten. Für diese Dampferfahrt waren wir besonders gut herausgeputzt worden. Schick sahen wir aus mit unseren farbigen Schülermützen in blau oder in grün mit silbernen Litzen umnäht.
 Wir fuhren gerade von der Memel in die Gilge ein bei Schanzenkrug. Plötzlich eine kleine Windboe, und von meinem Klassenkameraden Alfred Michalow segelte seine schöne neue Schülermütze, vom Wind getragen, ins Wasser. Oh Schreck, sie schaukelte in den Wellenbergen davon. Alfred, fast in Panik, ruft zum Steuerhäuschen hinauf: „Herr Kapitän, Herr Kapitän, bitte anhalten, bitte anhalten, meine Mütze, meine Mütze!" Da ruft der Kapitän: „Das geht jetzt nicht, wenn wir zurückkommen, wird sie uns vielleicht entgegenschaukeln." Auf der Rückfahrt hat dann Alfred die ganze Zeit aufs Wasser gestiert, aber leider, seine Mütze sah er nicht mehr.

 Alfred Pipien

Eine Dampferfahrt von Tilsit nach Schwarzort

Eindrücke und Beobachtungen

Der Memelstrom, die große Wasserstraße im Nordosten unserer ehe- maligen  Heimat  Ostpreußen,  wurde  von  den  Dampfern  der  T ilsiter Schiffahrtsgesellschaften  Preugschat  und  Schienther  bis  zur  litauischen Grenze und zur Kurischen Nehrung befahren. Diese Reedereien unterhielten einen Passagier- und Güterverkehr nach Ragnit, nach den Ausflugsorten Ober- und Untereißeln, Trappönen, zum Grenzort Schmalleningken (Marktverkehr nach Tilsit), zu den Dörfern der Elchniederung und  zu  Badeorten der  Kurischen Nehrung. Außerdem gehörte zu den Tilsiter Schiffahrtsgesellschaften die Reederei Meyhöfer mit Hauptsitz in Königsberg (Pr.).

Die Memel konnte während der eisfreien Monate von Schiffen bis zu 600 BRT befahren werden. Dagegen waren die in die Memel einmündenden größeren Nebenflüsse Jura und Szeszuppe nur bedingt schiffbar. Bei dem Dorf Schanzenkrug verliert die Memel ihren Namen und teilt sich in die Hauptarme Ruß und Gilge und in viele kleinere Nebenflüsse, die zu dem abwechslungsreichen, naturschönen Memeldelta (Niederung) gehören. Dieses weitverzweigte Flußgebiet des Deltas mündet naturgewollt in das Kurische Haff.

Geschichtliche Überlieferungen besagen, daß durch die Gilge in und nach der Zeit des Deutschen Ritterordens der größte Teil der damaligen Schiffahrt ging. Die Gilge fließt  in fast westlicher Richtung dem Haff zu, hat eine Länge von ca. 45 km und nur eine Breite von etwa 45 m. Für die Niederung war sie als Wasserstraße sehr bedeutsam, denn durch diesen Mündungsarm gelangte man von Tilsit auf dem schnellsten Flußwege nach den Niederungsdörfern Sköpen, Lappienen, Seckenburg, Gilge und über das Kurische Haff nach Rossitten, Sarkau  und  Cransbeek. Aus  geschichtlicher Sicht  wäre  erwähnenswert, daß infolge der Besetzung des Memellandes und des nördl. Teiles des Kurischen Haffes und der Nehrung im Jahre 1923 durch Litauen (Folge des Versailler Vertrages von 1919) der Besuch dieses Teiles der Kurischen Nehrung durch erschwerte litauische Paßbestimmungen belastet wurde. Nach Rückkehr des Memellandes einschließlich des nördlichen  Teiles  der  Kurischen  Nehrung  zum  Deutschen  Reich  im Jahre 1939 normalisierten sich diese Verhältnisse.

Neben allem Großartigen und Eindrucksvollen, das unsere ehemalige Heimatstadt Tilsit aufzuweisen hatte, war  es  unter anderem die den Strom umgebende Landschaft mit ihren Wiesen, Weiden, Deichen, Gehöften und einem Sommerhimmel voller Blau mit den sich auftürmenden weißen Haufenwolken, die diesem Land das Gepräge gaben. Breit strömte die Memel dahin. Ihre Wellen und Fluten umspielten die Schiffe. Mit ihren Wassern hat alles begonnen, was diese Landschaft so  groß  und  anziehend  machte.  Unermüdlich  ihr  Fließen  und  Rauschen, das aus ferner Vergangenheit kam. Sie hatte es stets eilig, ihr Ziel, das Delta der Niederung, zu erreichen.

Ein  Blick  über  die  Memel  auf  die  gegenüberliegende Stromseite mit den Wiesen, der Milchbuder Straße, dem  Brückenkopf und den sich am  Horizont  hinziehenden  memelländischen  Waldgebieten  vermittel- te   dem   Betrachter  einen  beschaulichen  und  erhabenen  Ausblick.

 

Die Anlegeplätze unserer schnittigen Raddampfer waren ein Anziehungspunkt vieler Spaziergänger, ein Treffpunkt für jung und alt. Wir Kinder  empfanden  es  als  Bestätigung  „seemännischer  Kenntnisse", die Namen der einlaufenden Dampfer, die sich noch in der Nähe der Eisenbahnbrücke  befanden,  an  den  Aufbauten,  Schornsteinen,  Ma- sten und ihrem Anstrich zu erraten. Selten irrten wir uns. Ausflüge mit unseren   Dampfern   den   Memelstrom   stromaufwärts   und   stromabwärts erfreuten sich bei unseren Bürgern besonders im Sommer gro- ßer Beliebtheit.

 

Ein Jahrmarktstag in Tilsit

In der ersten Woche im September begann meistens unser alljährliches Jahrmarktsfest. Die Verkaufsbuden standen in Dreierreihen die ganze Deutsche Straße entlang. Angefangen vom Deutschen Tor bis zum Fletcherplatz. Gleich am Anfang der Deutschen Straße in der Höhe Gaststätte Budwill stand der Spitzenjakob, Danach reihten sich Verkaufsbuden aller Art an. Uns Kinder interessierten in erster Linie die Spielwaren- und Süßigkeitsbuden
mit ihren Lebkuchenherzen und ganz besonders die Steinpflaster.
Der Jahrmarktslärm begann eigentlich schon hier zwischen den Buden. Es war ein Getröte und Geknalle. Ganz besonders gerne hantierten wir mit den Plettschkeflinten (Zündplätzchenpistolen) umher. An so einem Spielzeugstand gab es fast alles: von bunten Luftballons, Windmühlen, Brummkreiseln, Klimperleierkästen über Flöten und Tüten bis zu Puppen und und und ... Am Schenkendorfplatz war ein großer Pöttemarkt. Da gabs vom Porzellan bis zum großen Steintopf alles. Kamen wir in die Nähe des Fletcherplatzes, wurde alles noch viel lauter. „Gleich kommen wir zum Radauplatz", sagten wir. Dazu gehörte auch der Schloss- und Ludendorffplatz. Hier waren die Schau-, Los- und Schießbuden sowie Karussells bis hin zur Achterbahn. Am Samstagnachmittag war überall ein großes Gedränge. Es waren Besucher aus der Stadt und vom Land gekommen. Wir waren fünf Schulfreunde, und wir hatten schon so ziemlich alles gesehen, auch die Steilwandfahrer (die roten Teufel), die an der sechs Meter hohen steilen Wand mit ihren Motorrädern derart rauf und runter rasten, dass die Steilwand wackelte. Jahrmarkt auf dem Fletcherplatz, wie ihn die Tilsiter kannten. Als wir an das Kettenkarussel kamen, hatte unser Freund Kurt Ewert einen tollen Einfall, der nicht ohne Folgen bleiben sollte. Kurt war etwas begüterter als wir. Seine Eltern hatten einen Kolonialwarenladen und eine Kohlenhandlung. Sein Taschengeld betrug immer ein paar Dittchen mehr. Er meinte folgendes: „Wir fahren jetzt alle Kettenkarussel, wer von euch am längsten aushält ohne schwindelig zu werden, dem bezahle ich alle Runden, die er gedreht hat. Toll, dachten wir, nichts wie rein. Alle haben Platz genommen, Sperrkette zu, ab gings. Einmal, zweimal, ja wir zählten sieben oder gar acht Mal, beim neunten Mal wurde es uns schon ein bisschen komisch etwas im Kopf sowie auch in unserem Bauch. Wir konnten die Umgebung nicht mehr richtig wahrnehmen und hatten die Orientierung verloren. Mein Gott, ist mir schlecht, dachte ich. Als die nächste Runde kam, fragte Kurt „Könnt ihr noch?" „Ja, ja", keiner wollte aufgeben. Dann passierte es. Da wir vorher Würstchen, Steinpflaster, alle möglichen Süßigkeiten gegessen und Brause getrunken hatten, drehte sich nicht nur das Karussell, sondern auch unser Magen. Die Wangen wurden immer dicker, ein übles gleichgültiges Gefühl kam auf. Der Druck war so groß geworden, dass wir den Inhalt nicht mehr halten konnten. Wir prusteten alles heraus, schön gleichmäßig über die Köpfe der unter uns promenierenden Jahrmarktsbesucher. Panik, Schreck und Fluchen brach da unten los. Torkelnd verließen wir das Karussellpodium, kullerten zum Teil die Stufen hinunter. Die Passanten, die am meisten abbekommen hatten, wollten uns gleich vertrimmen. Aber die Kassierer vom Karussell stellten sich schützend vor uns. Sie meinten nur, das könnte jedem mal passieren. Logisch, die hatten durch uns ganz schön Kasse gemacht. Wir rappelten uns langsam auf und torkelten in Richtung Memelufer. Auf dem Anlegesteg vom Tilsiter Ruderclub legten wir uns nieder. Das Taschentuch, in der Memel nass gemacht, legten wir uns auf die Stirn und glaubten damit Linderung zu bekommen. Wie war uns schlecht. Wie wir so auf den Planken lagen, ging das Karussellfahren von neuem los. Blickten wir zur Königin-Luise-Brücke herüber, drehte sie sich mit uns. Blickten wir zur Ordenskirche, dachten wir, sie fällt auf uns herab. Es dauerte schon eine Weile, bis die Normalität wieder zurückkehrte. Ganz langsam gingen wir zurück zum Radauplatz. Wieviele Runden wir eigentlich gefahren sind, konnten wir nicht mehr feststellen, aber Kurt hat für uns alle die Rückfahrt nach Hause mit der Elektrischen bezahlt. Noch lange haben wir an die katastrophale Karussellfahrt gedacht und uns amüsiert.
Alfred Pipien

Jahrmarkt auf dem Fletcherplatz, wie ihn die Tilsiter kannten. Foto: Archiv
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