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Dienstag, 26. November 2024

Mit Kranz und Schleier im Rucksack

Gisela Hannig, Friedrichshafen

Fluchtbericht aus Ostpreußen im Januar 1945

Soviel stand fest, am 12.02.1945 sollte Hochzeit sein. Doch war das damals leichter gesagt, als getan. Der Verlobte hatte Einsätze als Jagdflieger im Kurland und die Braut sollte zunächst alle Papiere beschaffen, sowie die Festivitäten organisieren mit allem, was dazu gehört. Ich fuhr also wie üblich mit dem Fahrrad von Heiligenbeil nach Balga bei eisiger Kälte Mitte Januar 1945. Grau und eigenartig ruhig lag die Landschaft da, als ich zum Schneckenberg herauf strampelte.  Dort wohnte der Bürgermeister, der mich schon etwas skeptisch oder fast mitleidig ansah, als ich ihm mein Anliegen vortrug. Mit den erforderlichen Stempeln und Bestätigungen für die arische Abstammung, die ich zu erbringen hatte, radelte ich weiter nach Kahlholz.  Für Kranz und Schleier, die ich unter der Hand erhalten konnte, sollte ich noch Eier und Speck abliefern. Das alles war natürlich nur im Tauschgeschäft zu ermöglichen. Die gute Tante, bei der ich unvergessene Ferien auf dem Bauernhof am Frischen Haff erleben durfte, war wie so viele Bewohner unseres so schönen Ostpreußens in arg bedrückter Stimmung. Was sollte nur werden, wenn die Russen noch näher kämen?  Wohin mit dem Vieh?  Ein Abschied von den Pferden würde dem Onkel wohl das Herz brechen.  Schon Jahre davor hatte er immer auf die da oben gewettert und daß „der olle Fritz koame müßt und mit dem Krückstock mang hauen!“ Die Tante schlachtete noch schnell  „e Hühnche, weil wohl doch balad alles zum Deiwel ginge“, und dann war es Zeit für die Heimfahrt. In Balga machte ich noch einen kurzen Besuch bei dem alten Großvater,  - „Ne, de KdF-Reis‘ wollte er als über 80-Jähriger nicht mehr mitmachen“ – falls sogar die Balgaer vor den Russen flüchten müßten.

Friedlich lag die schneebedeckte Eisfläche des Frischen Haffs da – leichter Nord-Ost Wind im Rücken bei der Heimfahrt und innere Unruhe vor dem Kommenden. Daheim ein Brief aus dem Kurland:
„… und  wenn der ganze Schnee verbrennt, geheiratet wird doch!“  Schon eine Woche darauf wurden wir eingekesselt und ein Entkommen war nur noch auf dem See- oder Luftwege möglich. Nach vielem Hin- und Her hatte ich Gelegenheit, von unserem Fliegerhorst aus mit einer Kuriermaschine nach Pommern mitzufliegen und das: mit Kranz und Schleier im Rucksack!  Kurzer, übereilter Abschied von Mutter, Großeltern und Verwandten. Wir starteten am Nachmittag, lagen zu zweit – noch eine Freundin durfte Mitfliegen – mit den Köpfen zum Pilotensitz, die Füße zum Rumpf in der viel zu engen Arado-96. Noch einmal sahen wir den Marktplatz von Heiligenbeil und die alte Kirche unter uns und ich sang:  „Nun ade Du mein lieb Heiligenbeil.“  Meine Freundin fragte: „Betest Du?“ und ich antwortete: „noch nicht.“  Am Boden waren es  -18 Grad Celsius und oben war es spürbar kälter. Nach kurzer Zeit sahen wir Danzig und die alles überragende Marienkirche unter uns. Bald schaute alles gleich aus, weiße Landschaft im fahlen Licht, wie unter einem Leichentuch. Der Flug dauerte schon eine halbe Stunde länger als geplant, der Pilot hatte wohl die Orientierung verloren. Wir waren schon steif gefroren und noch kein Flugplatz in Sicht. Der Sprit würde noch eine Weile reichen, rief der Pilot uns zu. Er ging weiter runter, dann wieder hoch in Richtung Ostsee, flog eine Kurve und wieder zurück und da – das müßte Stolp sein.  Landung, aussteigen auch leichter gesagt als getan. Wir waren total unterkühlt. Man half uns heraus, brachte uns in eine Baracke an einen fast glühenden Ofen und nach einem heißen Tee erwachten die Lebensgeister wieder, indem wir erst mal zitterten. Am nächsten Morgen wollten wir lieber per Bahn weiter, ohne zu ahnen, wie überfüllt bereits die Züge mit Flüchtlingen waren. Auch die Strecke schien verstopft zu sein, denn es ging nur im Schneckentempo voran. Wir ergatterten einen Sitzplatz zu zweit – Kinder schrien, Säuglinge erbrachen die ungewohnte Kost, meistens hereingereichten Malzkaffee, alles fror sofort wieder an. Die Züge konnten nicht mehr geheizt werden. Am nächsten Tag endlich ein Halt auf einem richtigen Bahnhof und heiße Erbsensuppe wurde hereingereicht. Plötzlich ging es jedoch weiter – ein Kind stand noch auf dem Bahnsteig, die Mutter war mit den anderen dreien und einem Säugling beschäftigt – große Aufregung. Wir versuchten sie zu beruhigen so gut es ging – das Kind würde sicher mit dem nächsten Zug nachgeschickt!? Wir fuhren nur wenige km, die Nacht brach herein, an Schlaf war kaum zu denken. Am nächsten Morgen entschlossen wir uns auszusteigen und auf den Bahngleisen weiter zu marschieren, denn in Pasewalk hatte ich Verwandte und bis dahin konnte es nicht mehr weit sein. Aber der Rucksack ward doch bald schwer und die Bahnschwellen waren so vereist – doch dann sahen wir die Umrisse einer Stadt auftauchen.

Die Tante hatte schon jemand von der ostpreußischen Verwandtschaft erwartet. Von einem Geburtstag war noch Buttercremetorte übriggeblieben – selten hatte sie besser geschmeckt und der Schlaf in einem richtigen Bett so gut getan. Aber nach zwei Tagen wollten wir weiterziehen, meine Freundin zu ihrem Vater an die Küste und ich nach Schlesien zu den Schwiegereltern – so war es abgemacht, wenn Ostpreußen fallen sollte. Von Pommern bis Schlesien fuhr man 1945 schon an der HKL entlang. Ich erwischte einen Bauzug mit einigen geschlossenen Waggons, in denen Öfen aufgestellt waren. Zunächst saß ich mit vielen anderen Reisenden auf Telegraphenstangen aus den offenen Waggons. Es begann zu schneien und der Fahrtwind schnitt in die Gesichter. Ab und zu erhoben wir uns, um den Schnee abzuschütteln. Endlich hielt der Zug einmal an und man hatte Erbarmen mit uns, und wir durften in einen geschlossenen Waggon – welch ein Luxus! Irgendwie erreichten wir Sagan, wo ich einen normalen Zug bis Siegersdorf nehmen konnte. Die wenigen km bis zum Schulhaus nach Herrmannsdorf bin ich wohl mehr gelaufen als gegangen. Es war der 6. Februar vormittags – herzlicher Empfang, doch Vatel war bereits zum Volkssturm eingezogen worden und die Muttel saß mit drei Mädeln allein daheim. Von Norbert keine Nachricht aus dem Kurland, der Russe stand vor Berlin und Breslau und Königsberg war eingeschlossen. Wir besuchten Vatel nochmals in Budzlau, wo die Männer des Volkssturms in einer Schule untergebracht waren. Stolz wollte er uns die Funktion eines Maschinengewehrs erklären – aber vergeblich.  Das Lied aber, das er noch auf den Volkssturm komponiert hatte, spielte er uns mit Begeisterung auf dem Harmonium vor, das im Treppenhaus stand.  Er wollte seinen drei Söhnen, die alle an der Front standen, in nichts nachstehen.  Abschied vor dem letzten Abendzug mit gemischten Gefühlen – wir sahen Vatel nie mehr wieder.

Im Schulhaus gab es Einquartierung und wir hielten es doch für ratsam, ein paar Sachen zu packen. Nachdem wir noch eine Kiste im Waschhaus vergraben hatten, die Ziegel wieder sorgsam verlegt hatten, standen plötzlich russisch sprechende Soldaten hinter uns. Sie gehörten zu den Wlassow-Truppen. Sie halfen uns den übrigen Sand hinaustragen!

Am 10. Februar plötzlich Befehl, das Dorf zu räumen. Ein Treck wurde zusammengestellt, doch wo sollten die "Kantorkinder“ und der alte Onkel mitfahren?  Jeder hatte ohnehin mehr geladen, als die Pferde ziehen konnten. Wer laufen konnte, hatte auch im Schneematsch zu laufen. So langsam formierte sich ein trauriger Zug, alte Leute winkten am Zaun, sie wollten so etwas nicht mehr mitmachen. Mia weinte nach ihrer großen Puppe, die niemand mitgenommen hatte. So lief ich noch einmal zurück, riß noch Fotos aus einem Album, griff die Puppe und sah einen blutenden Schweinekopf auf dem Küchentisch. Soldaten feierten Schlachtfest, einer klimperte auf dem Klavier – reges Treiben in beiden Stockwerken. Den Treck erreichte ich bald wieder, der Rucksack mit Kranz und Schleier lag auf einem Wagen.  Bei Dunkelheit erreichten wir Lauban und in einem nahe gelegenen und schon verlassenen Bauerhaus machten wir Quartier. Die Kühe brüllten im Stall und nachdem wir sie gemolken und gefüttert hatten, auch jeder etwas warmes gegessen hatte, kehrte scheinbare Ruhe ein. Wir lagen zu sechst im Ehebett, aufgeschreckt von Detonationen. Wurden Brücken gesprengt oder war es Artilleriebeschuß?  Eigentlich war auch das egal, aber der Himmel war ganz rot im Osten wie auf alten Gemälden von Völkerschlachten. Wieder hastiger Aufbruch am Morgen. Ach ja, eigentlich hätten wir heute Polterabend gehabt – das scheint ein schöner Hochzeitstag zu werden. Nach Lauban kreuzte ein anderer Treck den unseren. Das Dorf würde auseinander gerissen werden befürchtete man nun. Das Ganze: „ Halt“ und beide Trecks sollten jetzt nach Böhmen umgeleitet werden. Das bedeutete Abschied für mich, denn um dahin zu gehen, hätte ich eine Sondergenehmigung haben müssen. Genau genommen müßte ich mich beim nächsten Luftgau-Kommando melden und das war Dresden.  Adressenaustausch für alle Fälle:  1 mal Berlin, 1 mal Garmisch, 1 mal Magdeburg. Bald stand ich allein auf der Landstraße mit meinem Rucksack -  noch ein verstohlenes Winken – nur Mut!  Ein richtiges Auto hielt an und ich wurde von zwei Uniformierten ein großes Stück des Weges mitgenommen, ein tolles Hochzeitsgeschenk.  Ob Norbert wohl noch im Kurland ist?  Am späten Nachmittag erreichte ich Dresden. Ein herrliches Bild von der Elbbrücke, die untergehende Sonne ließ die mit Patina bedeckten Türme besonders malerisch erscheinen und der Strom  spiegelte den roten Abendhimmel wieder.

Das Luftgau-Kommando war schnell zu finden und ein Gästebett auch zu erhalten. Nach einer guten, warmen Mahlzeit nichts als die Stiefel aus und ins Bett.  Kaum hatte ich mich ausgestreckt, ertönten die Sirenen. Unmöglich, wieder in die Stiefel hereinzukommen, die Strümpfe waren auch noch naß und die Füße voller Blasen. Also schnell auf Strümpfen, Stiefel und Rucksack über dem Arm, über die Straße in den nächsten Luftschutzkeller, vorbei an einem Wachhäuschen. Dort sollte ich den Rucksack liegen lassen, wie viele andere ihre Koffer. Aber woran sollte ich mich sonst festhalten? Kaum hatten wir alle dicht gedrängt auf Bänken im Keller Platz genommen als die Erde zu schwanken begann, Staub wirbelte auf. Detonationen schienen näher zu kommen, Frauen beteten, Kinder weinten und meine Knie flatterten. Verzweifelte Gesichter und Entsetzen bei den Männern  -  eine Tür wurde aufgerissen. Sofort sollten alle Männer raus zum Löschen, das Dach würde schon brennen. Niemand rührte sich. Nun sollten alle Frauen und Kinder in den Keller des Nachbarhauses. Es gab eine Verbindung dorthin. Ich half einer jungen Mutter den Kinderwagen die wenigen Stufen rauf und runter tragen. Ich sollte bei ihr übernachten, wenn ich nicht wüßte, wohin. Das müßte nun die erste Welle des Angriffes gewesen sein, viele wollten nach draußen, um zu sehen, was da nun eigentlich brennt. Wir standen vor dem Eingang, als ein heulender Feuersturm einsetzte, der aus der Innenstadt kommen mußte. Die gegenüberliegenden Villen brannten ebenfalls. Von dem Sturm wurden die alten hohen Bäume erfaßt. Brennende Äste flogen durch die Luft. Ich lief noch schnell über die Straße, um einen Mantel zu holen. Auf meinem Bett – obere Etage – lag ein Zentralheizungskörper, da hing der Mantel dran. Die Fenster hingen in den Angeln und brannten ebenfalls. Ich lief so schnell ich konnte wieder an dem Wachhäuschen vorbei zur Eingangstür, als eine gewaltige Detonation mich durch die Windfangtür fliegen ließ. Als ich mich umschaute, war von dem Wachhäuschen nur noch ein Krater zu sehen. Der dicke Stabsintendant, der vor mir gestanden hatte, lag leblos am Boden, und ich konnte nicht mehr richtig durchatmen. „Alle zurück in die Keller“ schrie jemand, „sie kommen noch einmal!“  Wieder bebte die Erde und dröhnten die Wände, Panik nicht nur unter den Frauen – da griff eine schon erfahrene  Rheinländerin nach mir: „raus hier, bevor es zu spät ist!“  Wir tauchten die Mäntel in die Löschwasserbottiche am Eingang, warfen sie über uns und ich noch über den Rucksack und drängten zum Ausgang. Kaum stand ich vor der Tür, als Dachpfannen auf Kopf und Rucksack prasselten. In gebückter Haltung rannte ich zur Straße, die von Bombentrichtern durchlöchert war.  Neben mir taucht ein PKW auf. Ich reiße die Tür auf und werfe mich auf den Beifahrersitz. Nach kurzer Zeit begann das Verdeck zu brennen – nichts wie raus. Im Rückspiegel sehe ich noch mein vom Rauch geschwärztes und vom Feuerschein rötlich angestrahltes Gesicht von einem weißen Rinnsal unterbrochen – Hochzeitstag. Nach wenigen Metern versucht da ein LKW, total von Menschen überladen, zwischen den Bombentrichtern voran zu kommen. Ich hänge mich mit einem Sprung hinten ran, bis die Finger nachlassen. Da sehe ich eine Mauer, wohl um eine Friedhof. Ich lege mich flach auf den Boden und Funken stieben über mich hinweg, die Häuser auf der anderen Straßenseite brennen auch. Immer noch heult ein Sturm, aber ich bekomme Luft, da am Boden im Windschatten und der naße Mantel schützt mich auch. Ich höre Prasseln und Krachen von einstürzenden Mauern, aber weiter entfernt. Irgendwie wird es Morgen, aber kaum heller. Ich überquere eine Nebenstraße und sehe Menschenmassen, verdreckt, verrußt mit geröteten Augen stadtauswärts streben. Manche sitzen am Straßenrand, Tücher vor den Augen.

Da ein Straßenschild: Nach Freiberg i.S.  Im nächsten Dorf nimmt mich eine Frau in ihre Wohnung – sie kocht Kaffe für viele, die alle auf dem Teppich lagern. Ich fiel in tiefen kurzen Schlaf. Gegen 11:00 Uhr versuchte ich nochmals Kontakt mit dem Luftgaukommando zu erhalten von einer Flakeinheit aus, die ihre Stellung am Dorfeingang hatte. Da heulten erneut die Sirenen. Parademäßig flogen die Bomberverbände an, um über dem brennenden qualmenden Dresden abermals ihre tödliche Fracht abzuladen.  Man konnte einzelne Bomben sehen. Keine Abwehr erfolgte, kein Jäger war zu sehen. Dresden war unverteidigt und voller Flüchtlinge aus dem Osten gewesen. Ob Rembrandts Saskia immer noch lächelt? Das ganze Ausmaß dieser Angriffe konnte man damals nicht übersehen. Es sollen nach Schätzungen über 200 000 Menschen,  vor allem nicht registrierte Flüchtlinge aus dem Osten, die in der Stadt Zuflucht gesucht hatten, umgekommen sein, unter ihnen 60 000 Dresdner Bürger.

Mein nächstes Ziel war Halle – dorthin waren die Akten von Königsberg aus dezentralisiert worden, um Gehälter berechnen zu können und Personalveränderungen einzutragen.  Ich reiste wieder per Bahn. Kurz vor Chemnitz erneut Fliegeralarm, alles raus aus dem Zug. Wir lagen hinter dem Bahndamm, als am tiefschwarzen Himmel die bewußten Christbäume erschienen, die die ganze Stadt in hellem Licht erstrahlen ließen. Schon fielen die Bomben, doch weit von uns entfernt. Am nächsten Tag Ankunft in Halle – noch eine fast verträumte Stadt. Mein Einsatz erfolgte sofort und doch war es fast sinnlose Büroarbeit. Wohin sollte man Gehälter überweisen, wenn die Empfangsorte in Ost und west bereits besetzt waren von Amerikanern oder Russen?  Fast stündlich hörten wir alle besorgt den Nachrichten und Wehrmachtsberichten zu. Die Abende und Nächte verbrachte man in den Luftschutzkellern. In Halle hatte Händel gelebt, das würden die Engländer verschonen. Der Irrtum klärte sich dann auch auf und bei sonntäglichen Spaziergängen an der Saale  hellem Strande flogen die Spitfires  Angriffe auf die Zivilisten. Ich konnte noch gerade hinter einen Baum flüchten.

Am  14. April 1945 war die Front so nahe gerückt, daß die Dienststelle aufgelöst wurde, und ich wieder meinen Rucksack schnürte und mit dem nächsten Zug Richtung Berlin fuhr. Bei Verwandten in Grünau war eine Nachricht von meiner Mutter da, daß sie nach Holstein geflüchtet wäre. Noch ging ein Zug aus dem völlig zerstörten Berlin in Richtung Hamburg. Am Anhalter Bahnhof spielte eine Musik-Kapelle auf einem Trümmerhaufen die bekannten Melodien von Paul Linke!  Der Zug war schnell überfüllt und nach wenigen Kilometern plötzlich Halt. Es zischte, alles legte sich flach auf den Boden. Da erschien der Schaffner, reparierte die Notbremse, an die jemand sein Gepäck gehängt hatte und der Zug fuhr weiter. Vor Hamburg nochmals Halt auf freier Strecke – Fliegerangriff – alles raus ins Gelände. Eine Garbe von einem Maschinengewehr streifte den Zug, traf aber nicht den Kessel der Lokomotive. Gegen Abend endlich Hamburg-Hauptbahnhof, doch nur von Altona ging es weiter nach Holstein. Welche Entfernung zu Fuß mit einem Rucksack! Bei einem Bäcker gab’s ein halbes Brot mit Mais gebacken und noch warm. Am späten Nachmittag dann in einem Dorf hinter Itzehoe kam mir meine Mutter auf der Landstraße entgegen. Große Freude, nun wird alles besser. Am nächsten Tag hohes Fieber, Angina, Mittelohrvereiterung. Zur Apotheke sind es 5 km zu Fuß. Plötzlich ein neues Geräusch auf der Straße – Gummiräder, das sind die Engländer!  Nach 2 Tagen geht da ein Landser des Weges. Er käme aus dem Kurland, da wären viele rausgekommen. Nun wurde ich wirklich auf dem schnellsten Wege gesund. Bei Meldorf war ein Gefangenenlager und dort erfuhr ich, daß mein Verlobter noch im April nach Lechfeld kommandiert wurde, um auf die ersten Düsenjäger umzuschulen. Deutsche durften sich nach der Kapitulation nur 50 km im Umkreis bewegen. Ich hatte versprochen, wenn alles schief geht, in Garmisch zu sein. Also war eine Sondergenehmigung vom Town-Major nötig.  „Wo kommen sie her? Aus Ostpreußen? So kultiviert ist Ostpreußen?“ Ich war auch für britische Verhältnisse in „full dress“ erschienen. Reisegenehmigung könnte er mir nur innerhalb der britischen Zone erteilen. Ich hätte Verwandte bei Hannover. Mit diesem Paß kam ich dann bis Aschaffenburg, teils per Anhalter, teils mit der Bahn, als ich mit vielen anderen Umherreisenden von einem Gi abgeführt werde. Es ist heiß der Rucksack schwer, er trägt ihn mir. Großes Verhör: „Du Nazi?“ Sie sitzen in Hufeisenform, ich sage 10 Mal dasselbe und soll dann RM 50,- zahlen, die ein Offizier in einer Zigarrenkiste einsammelt. Ich wundere mich und dann  wurde es teuer. Ich schlage noch etwas drauf und erhalte einen wunderschönen Paß mit Bleistift ausgeschrieben. Ich habe ihn vier mal geändert. Garmisch near Munic,  near Kassel,  near Hannover. Schönes Zigeunerleben: „ oder: sehet die Vögel unter dem Himmel.“  Nach 3 Tagen Ankunft in Garmisch. Mein Verlobter war bereits da, ist nun aber weitergezogen, um seine Familie und mich zu suchen. Meine Schulfreundin aus Heiligenbeil, bei der wir uns treffen wollten, finde ich hinter Stacheldraht als Rotkreuzschwester in ihrem Lazarett. Nach wenigen Ruhetagen mache ich mich auf den Weg nach Norden, denn im Raum Magdeburg wollte sich eventuell die Familie meines Verlobten treffen. Nach vier Tagen stand ich an der Grenze zur russischen Zone. Damals sammelten sich ganze Flüchtlingsströme in beiden Richtungen und es gab Helfer, die gegen Entgeld 20-25 Leute durch die Wälder bei Helmstedt führten. Man ging bei Dunkelheit los. Von einer Anhöhe sah und hörte ich vor einem Barackenlager am Lagerfeuer Russen singen. Ich hielt mich etwas zurück und konnte mich noch gerade in die Büsche schlagen, als der ganze Trupp kassiert wurde. Also warten bis die Sonne im Osten aufgeht und versuchen alleine durchzukommen. Doch noch vor dem Morgengrauen kam schon der nächste Flüchtlingstrupp vorbei. Mit ihm erreichte ich unbeschadet das nächste Dorf und mit einem Zug ging es nur wenige Stationen bis Altenhausen, unseren Treffpunkt. Der alte Rentmeister überbrachte dann die freudige Mitteilung: „ja, der Norbert ist hier und pflügt gerade mit zwei Ochsen.“ 

Was für ein Wiedersehen  – und alle Strapazen waren vergessen. Weihnachten gab es dann die Hochzeit, von der heute noch gesprochen wird. Heiligabend kam, die Familie fast vollzählig versammelt auf einem Bördenhof zusammen. Die alten Lieder wurden gesungen, als plötzlich Russen an die Tür pochten und Einlass begehrten. Sie wollten auf dem Teppich schlafen. Unruhige Nacht. Am nächsten Morgen wollten unsere Befreier nicht wieder weg. Der Tisch sollte gedeckt werden für alle Hochzeitsgäste und es lagen Maschinenpistolen herum neben noch schlafenden Russen. Mit Gesten und freundlichem Zureden waren sie dann doch zum Abmarschieren zu bewegen – Kranz und Schleier wurden angelegt zu dem Kleid aus Fallschirmseide. Der Dorfpolizist, der früher Kellner war, hatte eine Kollektion von dunklen Anzügen geliehen für die Herren der Schöpfung und für den Bräutigam sogar einen Smoking. So formierte sich ein Hochzeitszug Richtung Schloßkirche, in der eine Musikstudentin aus Schlesien uns mit einem wunderbaren Violine-Konzert überraschte und ein gerade anwesender bekannter Sänger das Largo sang. Und wie Recht hatte der Pfarrer in seiner Predigt: „Die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft.“

 

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