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Samstag, 23. November 2024

Flucht aus Balga/Ostpreußen 1945

Gundula Sauer, Herrenberg

Die Vertreibung aus dem Paradies

Damals, Mittel Februar 1945, als wir Abschied nehmen mußten von Balga, habe ich – gerade 12 Jahre alt geworden – nicht begriffen, daß für mich eine paradiesische Kindheit ein jähes Ende fand.

Balga, das ist für mich in der Erinnerung eine märchenhafte, beinahe unwirkliche Zeit, in der meine Phantasie regierte in einem zauberhaften Reich aus Wald und Wasser, aus Sand und Sonne, Ritterburg und Mauern, die wir waghalsig erklommen, um mit einem Blick das schimmernde Haff und den Landstreifen dahinter in Besitz zu nehmen. Je älter ich werde, umso Lebendiger wird die Erinnerung, ja das Wort Balga hat heute mehr denn je für mich einen eigenen Klang von etwas Kostbarem, das ich als Kind erfahren durfte. Die Winter unserer Kindheit waren nicht minder aufregend, wenn wir auf dem spiegelblanken Eis mit aufgehaltenem Mantel auf Schlittschuhen „segelten“ oder bis zur Brust im aufgewehten Schnee versanken, aus dem wir uns Häuser gruben. Von früh bis spät waren wir draußen in der herrlichen Natur dieser einmaligen Landschaft.

Meine Mutter hatte im Frühjahr 1945 in ein kleines Heft die einzelnen Stationen unserer Flucht, ihre Eindrücke, Gedanken und Gefühle aufgeschrieben. Anhand dieser Aufzeichnungen und meiner eigenen Erinnerung will ich nun nach mehr als 43 Jahren – vor allem für meine Söhne und Enkel über die bestürzenden Geschehnisse Anfang 1945 berichten, die uns zwangen, unsere schöne Heimat aufzugeben:

Am 8. Januar, dem Ende der Weihnachtsferien, fahren wir, meine Freundin Inge Thiel und ich, wieder zurück nach Braunsberg, wo wir das Elisabeth-Lyzeum besuchten. Wir werden jedoch sofort wieder von unserer Klassenlehrerin „bis auf weiteres“ zurück nach Hause geschickt. Wir erwischen gerade noch den – wie sich später ergab – letzten von Braunsberg nach Königsberg passierenden Zug. Inge und ich führen ein Gespräch über unseren, wie wir meinen, am Ende nicht auszubleibenden Sieg. Zu Hause in Balga ist alles ruhig, scheint tiefster Friede. Hier kann uns nichts geschehen, nie wird der Russe bis in diese Oase vordringen. Es ist kalt und wir genießen die zusätzlichen „Ferien“ auf Eis und Rodelbahnen, Mitte Januar wird es etwas unruhiger, es kommen Flüchtlinge aus den Grenzgebieten nach Balga, die aber bald weiterziehen werden. Wir glauben immer noch nicht, daß uns das gleiche Schicksal treffen könnte, zu sehr hat uns die NS-Propaganda mit unserer angeblichen „Unbesiegbarkeit“ eingelullt. Verwundete Soldaten treffen in Balga ein. Ich darf sie in der zum Lazarett umfunktionierten Jugendherberge besuchen und bringe ihnen eingemachtes Obst aus unserem gut bestückten Keller. Ich bin sehr betroffen von dem Elend dieser schwerverwundeten Menschen.

Am 26. Januar kommt mein Vater aus Pillau, wo er arbeitet, zu uns. Er packt eine große Kiste und vergräbt diese in dem Holzschuppen hinter unserem Haus. Wir wollen sie nach unserer „ganz sicheren Rückkehr“ wieder ausgraben, und damit der Feind dies nicht tun kann, wird ein Riesenberg von Holzscheiten auf die zugeschaufelte Grube geworfen. Todsicheres Versteck! Heute beklage ich am meisten den Verlust einer von meinem 1940 gefallenen Bruder Kurt erforschten und aufgestellten Ahnentafel, die sich u.a. in dieser Kiste befand. Von meinen Eltern erfuhr ich, daß meine Vorfahren väterlicherseits Salzburger Protestanten waren, und daß sich unter den Vorfahren meiner Mutter Hugenotten befunden haben, also zweimal Vertriebene aus Glaubensgründen. Mein Vater muß wieder nach Pillau zurückkehren, wo er 55 Jahre alt, als Leutnant zur Organisation Todt eingezogen wird, was ihn später in russischer Gefangenschaft in eine mißliche Lage bringen und ihm viele scheußliche Verhöre bescheren wird, weil er nicht beweisen kann, daß er nie in Rußland gewesen ist. Wir sorgen uns um meinen Bruder Fredi, von dem wir seit dem 3.12.1944 nichts mehr gehört haben. Wir glauben, daß er irgendwo an der Westfront kämpft. (In Wirklichkeit ist Fredi schon am 11. Dezember 1944 schwer verwundet und von den Amerikanern aufgelesen worden. Man brachte ihn in ein Lazarett nach Belgien, wo er mehrmals operiert wurde.  Anschließend kam er nach Frankreich, dann nach England, von wo er Anfang Januar nach den USA verschifft wurde.)

Unser Haus ist bis in den letzten Winkel belegt. Schon im Herbst zogen Bombengeschädigte aus Königsberg zu uns, im Januar kam eine Flüchtlingsfrau mit Kind dazu. Schließlich kommt immer mehr Militär nach Balga. In unserem Wohnzimmer richtet der aus Heilbronn stammende Major Pfeiffer eine Kommandantur  ein, auch sein Fahrer und sein Bursche ziehen zu uns. Es wird eng; wir haben noch das Schlafzimmer, die Küche ist Gemeinschaftsraum. Obwohl wir seit langem dumpfen Kanonendonner hören, will man an eine Flucht aus Balga nicht glauben, man hofft auf die große Wende, auf ein Wunder, Vergebens warten wir auf meinen Vater, aber die Verbindungen sind abgebrochen, ein Zug fährt schon lange nicht mehr. Anfang Februar verlassen immer mehr Menschen das Dorf. Nachdem man grauenvolle Dinge vom Verhalten der russischen Soldaten gegenüber der Zivilbevölkerung gehört hat, wird die Angst vor den Russen immer größer.

Unsere Nachbarn Brall kommen Abschied nehmen, dann Frau Nikutowski, Frau Höhn und unser verehrter Kunstmaler Kurt Maltz, dessen schöne Bilder die Wände unseres Hauses schmücken. Auch von mir hat er ein Portrait gemalt, wobei er mir die schönsten Geschichten erzählte, so daß das Stillsitzen reinstes Vergnügen war.

Der Major rät meiner Mutter zu packen, da die Front immer näher rückt. Meine Mutter hat mit ihrem Bruder, Paul Hambruch aus Keimkallen, vereinbart, daß wir beide und die Königsberger Familie Radtke, die in unserem Haus wohnt, im Keimkaller Treck mitfahren können, der von Tante Hanne, seiner Frau, angeführt werden soll. Auf einmal muß alles sehr schnell gehen; in der Nacht klopft Polizei an die Fenster: Wir sollen fort, das Dorf wird Kampfgebiet. Wir verlassen das Haus am 18. Februar 1945.

Für meine Mutter, die in ihrem Leben schwere Schicksalsschläge hat hinnehmen müssen, kommt eine der bittersten Stunden: Der Abschied von ihrem schönen Heim, in das sie 1939 nach vielen Jahren harter Arbeit, zähen Sparens und großer Entbehrungen einziehen konnte. Mein Vater erkrankte Ende der 20er Jahre schwer am Magen und am Zwölffingerdarm und konnte nicht mehr zur See fahren. Er war jahrelang krank und arbeitslos, so daß meine Mutter keine Arbeit scheute, um die Familie zu ernähren. Wir wohnten zu dieser Zeit in der Dorfmitte in einer Doppelhaushälfte, die mein Großvater, Hermann Hambruch, im Jahr 1918 für meine neuvermählten Eltern gekauft hatte. Schon hier hatten wir im Sommer Feriengäste. Erst Mitte der 30er Jahre, als mein Vater wieder Arbeit hatte, konnten meine Eltern daran denken, ein neues Haus zu bauen. Sie erwarben 1938 ein Stück Wald von Herrn von Glasow, dem Balgaer Gutsbesitzer, der das Nutzholz behielt. Die Stubben, Baumäste und Baumwipfel wurden zu Brennholz für uns verarbeitet. Aber zuvor mußten die Stubben Stück für Stück gerodet werden, was in der Hauptsache von meiner Mutter und meinem Bruder Fredi bewältigt werden mußte, denn mein Vater konnte seine Arbeitskraft nur am Wochenende zur Verfügung stellen. Mein Bruder, der gerade eine Lehre in Heiligenbeil begonnen hatte, mußte jeden morgen um 4:00 Uhr aufstehen, – während meine Mutter schon seit 3:00 Uhr auf den Beinen war – um vor seiner Fahrt nach Heiligenbeil auf dem Bauplatz zu arbeiten, zunächst Stubben roden, dann die Ziegelsteine vom Weg am Sportplatz auf das Grundstück schaffen. Bis die Maurer morgens anfingen, war immer schon alles vorbereitet und meine Mutter hatte schon alles unter Kontrolle. Es wurde ein geräumiges Haus mit 3 Fremdenzimmern unter dem hohen Dach und mit schönen großen Kachelöfen. Meine Mutter hat immer selbst mit Hand angelegt und das neue Heim eingerichtet und ausgeschmückt, so daß sich hier Sommergäste und Freunde gleichermaßen wohlfühlten. Der Kunstmaler Maltz kam besonders gerne zu einem guten Mittagsmahl nach „Müllers Ruh“, er sagte dann immer genießerisch: „Frau Müller, es hat wieder mal bildschön geschmeckt.“

Mir fällt der Abschied von meiner Katze „Mieze“ am schwersten, war sie doch jahrelang mein treuer Spielgefährte und begleitete mich, wo sie nur konnte, auch auf längeren Radtouren.  Schweren Herzens gebe ich sie und ihr Bettchen in die Obhut des Burschen. Meine Mutter und Major Pfeiffer stellen noch das schönste und größte Gemälde von Kurt Maltz „Die vier Jahreszeiten“ hinter die Ehebetten. Ein letztes Mal lehnt sich Mutti von außen an die Hauswand, dann steigen wir in das Auto, das uns der Major zur Verfügung stellt, um uns nach Keimkallen zu bringen. Hier auf dem Hof meines Onkels steht schon seit Tagen ein mit Planen bedachter Wagen bereit.

Mein Onkel Paul Hambruch ist ein vielseitig begabter Mann. In jungen Jahren hatte  er bei seinem Vater in Groß Hoppenbruch das Stellmacherhandwerk erlernt, bevor er auf Wanderschaft ging. In Sachsen erlernte er einen ganz anderen Beruf: Er machte eine Bäckerlehre und den Meister. Als er wieder zurückkam, verlangte mein Großvater, daß er die Meisterprüfung auch als Stellmacher ablegte, um seinen Betrieb übernehmen zu können. Er beherrschte aber auch den Beruf des Zimmermanns – z.B. hat er in unserem Haus Fenster und Treppe eingebaut – und des Möbelschreiners, wovon reich verzierte, schwere Eichenmöbel in seinem Haus in Keimkallen Zeugnis ablegen. Als er heiratete und das Rittertaler Gut parzelliert wurde, erwarb er hier Ländereien und zog mit  seiner Frau Johanna nach Keimkallen, wo sie beide einen kleineren landwirtschaftlichen Betrieb „nebenher“ bewirtschafteten. Sie besaßen 1-2 Pferde, 5-6 Kühe, mehrere Schweine und viel Federvieh. Außerdem war mein Onkel als Fleischbeschauer tätig und wurde zum Bürgermeister von Keimkallen gewählt. Ich erinnere mich noch gut, daß man hier große Feste zu feiern verstand, so daß einem ob all der Köstlichkeiten auf den langen Tafeln die Augen übergingen. Für die herrlichen Gebäcksorten war mein Onkel zuständig, während Tante Hanne, die in ihrer Jugend als Mamsell auf einem Gut tätig war, die schmackhaftesten Gerichte auf den Tisch zauberte.  Auch Tante Hanne muß nun ihr Reich verlassen, Onkel Paul muß zurückbleiben, um beim Volkssturm die Heimat zu verteidigen.

Am Montag, den 19. Februar um 8:00 verlassen wir mit dem Planwagen das Gehöft meines Onkels, die Wagen der Keimkaller Bevölkerung schließen sich im Treck an. Es kutschiert ein Pole, der uns unterwegs aber bald verlassen wird, so daß  Tante Hanne die Zügel in die Hand nehmen muß. Es geht über Heiligenbeil nach Deutsch-Bahnau, einem Dorf am Haff, nur Wagen an Wagen und es sieht so aus, als kampieren die vielen Menschen hier schon seit längerer Zeit. Auch für uns geht es zunächst nicht weiter, alle Wege sind verstopft. Hausrat, Betten und Wäsche liegt überall herum, wohl um die Fahrzeuge leichter zu machen für die Fahrt übers Eis und um Platz für Flüchtende ohne Fahrzeug zu schaffen. Auf dem mürbegefahrenen Eis müssen immer neue Routen abgesteckt werden. Bevor man auf das Eis darf, wird jeder Wagen scharf kontrolliert, ob sich nicht auch eine kampffähige Person versteckt hält. Endlich geht es auf das Eis. Hinter uns reiht sich Wagen an Wagen, vor uns auf dem hellen Eis ein langer dunkler Treck, Zielscheibe für die immer wieder ganz plötzlich auftauchenden russischen Tiefflieger. Streckenweise laufe ich gebückt unter dem Wagen mit, aus Angst vor den Geschossen von oben. Im Wagen halten sie Zinkwannen über die Köpfe. Immer wieder sehen wir eingebrochenen und wieder zugefrorene Wagen im Eis stecken. Links und rechts liegen tote Pferde. Tote Menschen werden wohl noch in den Wagen mitgenommen, um sie auf der Nehrung zu begraben. Nichts erzählt uns von den vielen Ertrunkenen, die mit ihrem Wagen untergegangen sind.  Ich sehe ein Pferd, da von einem Splitter ins Bein getroffen, mitten auf dem Eis steht und auf einen gnädigen Treffer wartet, der ihm den Tod bringen soll. Plötzlich hält die ganze Kolonne: Erneut ein besonders schwerer Luftangriff. Auf unserem Wagen wird es ganz still. Um uns das harte Bellen eingeschlagener Geschoße, vor uns sind einige Wagen getroffen worden, zuckende Pferde bleiben liegen. In der plötzlich eintretenden  Stille atmen wir auf: Gott sei Dank, uns ist nichts passiert. Langsam geht es wieder weiter. Auf dem ganzen Weg über das Eis hat meine Mutter Bauchkrämpfe und Durchfall. Es wird dunkel und wir sind immer noch mitten auf dem Haff. Plötzliche Hilfeschreie vor uns; der Wagen ist eingebrochen, man hört die Pferde wild um sich schlagen. Alles faßt an, um den Wagen herauszukriegen. Es fehlen die Männer, die zurückbleiben mußten. Schließlich haben viele Hände den Wagen heraus gewuchtet. Der  Weg wird neu abgesteckt und führt jetzt im Bogen um das Loch herum. Immer wieder ist der Himmel wie von zuckenden Blitzen grell erleuchtet. Die Nacht ist lang und kalt; wir kuscheln uns in die dicken Pelzdecken. Gegen 1:00 Uhr sehen wir endlich dunkel die Nehrung vor uns, doch wir können, endlich an Land, nicht weiter, weil alle Wege verstopft sind. Alle müssen vom Wagen herunter, um zu schieben, weil die Pferde es durch den tiefen, aufgewühlten Sand nicht schaffen. Wir können nicht mehr nach der linken Seite Richtung Elbing fahren, weil unser Weg dorthin inzwischen vom Russen abgeschnitten ist. Wir fädeln uns in die von links zurückflutenden Tecks ein und fahren nach rechts Richtung Neutief, wo wir zwischen 3:00 Uhr und 4:00 Uhr ankommen. Bis es hell wird, schlafen wir ein bißchen auf dem Wagen, dann sehen wir, wo wir sind: Ein wüstes Durcheinander von allen möglichen Fahrzeugen und hunderte von wild umherlaufenden Pferden, Kisten und Säcken, Speckseiten und Federbetten, Wäsche und Pelzdecken. Dazwischen die Vielen, vielen Menschen mit angstvollen Gesichtern.

Auch wir müssen nun absteigen und unseren Wagen zurücklassen. Tante Hanne streichelt noch einmal ihre Braunen, die sie ausgespannt hat. Alle diese Stunden haben sie uns über das Eis gezogen, sicher sind sie sehr müde, aber auch hier lassen die Bordkanonen der Tiefflieger sie keine Ruhe finden.

Am 20. Februar um 6:00 Uhr heißt es, wir werden mit Lastwagen zur Fähre gebracht, Gepäck nur soviel, wie jeder tragen kann. Meine Mutter hat 3 Gepäckstücke, wie ich auch, jeder eine vollgestopften Rucksack und für jede Hand einen großen Koffer. Soldaten helfen uns auf den Laster, mit dem wir auf die Fähre nach Pillau kommen. Hier stehen wir von 9:00 bis 14:00 Uhr und warten auf ein Schiff, das aber wegen der vielen Bombardierungen des Hafens gar nicht hereinkommen kann. Hoch auf spritzen die von den Bomben verursachten Fontänen vor uns im Hafen. Tausende stehen hier in Pillau und warten auf irgendeinen Weitertransport. Stattdessen kommen  Lastwagen, die uns zu Baracken bringen, deren Fensterscheiben sämtlich herausgefallen sind. Es wird gemunkelt, in der Nähe sein ein Munitionslager bombardiert worden. Wir haben angst, sitzen auf unseren Koffern und überlegen, wie es wohl weitergehen soll. Tante Hanne ist verschwunden, sie hat eine Möglichkeit gefunden, wo sie ihren geliebten Bohnenkaffee kochen kann und bringt uns auch einen Topf voll mit. Sie hat gehört, daß es inzwischen einem Schiff gelungen sei, heil den Hafen zu erreichen. Wir wollen schleunigst wieder zum Hafen. Vor der Baracke halten Fuhrwerke, die uns erneut zum Hafen bringen. Bei unserer Ankunft erfahren wir, daß der Dampfer schon übervoll ist: Kein Platz mehr für uns! Also zurück zu den Baracken, wo  wir ein Zimmer mit 16 Leidensgenossen teilen und uns ein Nachtlager auf dem Fußboden machen. Und doch sind wir zufrieden, uns ausruhen zu dürfen. Bis jetzt sind wir in verhältnismäßig kurzer Zeit gut vorangekommen, denn überall treffen wir Menschen, die schon 3 Wochen und länger unterwegs sind. Vielen Säuglinge und Kleinkinder sind in der Kälte und mangels einer geeigneten Nahrung gestorben, viele alte Menschen haben die Strapazen  nicht überstanden. Zum ersten Mal seit unserer Abfahrt von Keimkallen finden wir Ruhe, etwas zu essen, ja wir können mit den mitgenommenen Leckerbissen  anderen eine Freude machen. Aus Angst vor erneutem Durchfall ißt meine Mutter nichts.

Am nächsten Morgen, dem 21.02. 1945  in aller Frühe werden wir erneut zum Hafen gebracht. Ein kleiner Dampfer steht da, der im Eiltempo beladen wird und – welch ein Glück – auch uns einschließlich aller Keimkaller aufnimmt. Der Kapitän verliert keine Zeit, um schleunigst aus dem bombengefährdeten Hafen zu kommen. Weiter draußen ankern wir jedoch bis es Nacht wird. Wir bekommen eine heiße Suppe, bevor wir bei Dunkelheit auslaufen. Keiner weiß, wohin die Reise geht, nur weg aus dem Kampfgetümmel. Früh um 8:00 Uhr legen wir in Gotenhafen an. Warum konnte es nicht weitergehen? Hier in Gotenhafen ist die Gefahr keineswegs gebannt. Auch hier ist die Front nicht fern. Tausende warten hier – manche schon recht lange – auf eine Möglichkeit weiterzukommen. Wir werden in einen riesigen Lagerschuppendirekt am Hafen geführt, in dem schon ca. 200 Menschen auf Holzwolle auf dem kalten Zementboden lagern. Wir suchen uns Holzwolle für unser Lager. Ich lege mich hin und versuche einzuschlafen, aber um mich herum geschieht so viel, daß ich keine Ruhe finde. Kinder schreien oder erbrechen sich in die Holzwolle direkt neben mir. Es ist eine große Unruhe in der riesigen Halle, ein Kommen und Gehen. Meine Mutter legt sich nicht hin, sie geht die ganze Nacht draußen auf und ab. Von Soldaten erfährt sie, daß ganz in der Nähe ein großes Schiff, die „Deutschland“ beladen wird. Aus der Baracke werden Frauen mit Kleinkindern aufs Schiff geholt. Die größeren Kinder sind nicht gefragt, denke ich. In meiner Mutter reift der Entschluß: Wir müssen unbedingt mit der „Deutschland“ mitkommen, hier ist für sie kein Bleiben. Sobald es etwas heller wird, läuft sie mit wunden Füßen weite Strecken, zuerst zur Kommandantur in die Stadt, dann zur Kreisleitung und zuletzt zurück zum Schiff selber. Überall zeigt sie das Bild von meinem Vater in Marineuniform und legt Unterlagen über seine Seefahrtzeit vor. Sie bettelt so lange um Mitnahme mit der „Deutschland“, bis sie schließlich vom Kapitän selber eine Schiffskarte bekommt. Die Schwägerin und ich sollen ohne Karte mitgenommen werden. Aber gerade das will Tante Hanne nicht, außerdem möchte sie bei ihren Keimkallern bleiben, und so eilen wir zwei alleine auf die „Deutschland“. Die uns vom Kapitän mitgegebenen zwei Matrosen tragen unser Gepäck gleich zu einem Kran, der es in den Laderaum des Schiffes befördert. (Wir werden diese 6 Gepäckstücke nie mehr wiedersehen.) Ob meine Mutter auf diese Schiffsreise auch so sehr erpicht gewesen wäre, wenn sie von dem sich kurz zuvor ereigneten furchtbaren Schicksal der „Wilhelm Gustloff“  erfahren hätte?

Am 23. Februar gegen Abend verläßt die mit mehr als 14.000 Flüchtlingen und Verwundeten weit überladene „Deutschland“ Gotenhafen. Mutti lehnt in einem Gang in einer Ecke, ich liege dicht an der Gangwand und schlafe erschöpft ein, Mutti geht gegen Morgen nach ganz oben und sieht den stolzen Geleitzug, der uns begleitet und fühlt sich ganz geborgen. Sie ahnt nicht, daß wir – wie wir später erfahren werden – auf der ganzen Reise von russischen U-Booten umlauert sind. Die „Deutshland“ stoppt vor der Insel Rügen, es beginnt das große Ausladen, das viel Zeit in Anspruch nimmt. Am 25. Februar gehen wir von Bord. Mit einem kleineren Boot kommen wir in Saßnitz an, wo schon Züge für die Weiterfahrt bereitstehen. Bevor wir einsteigen, erkundigt sich Mutti nach unserem Gepäck. Es heißt, wir sollen nur mitfahren, das ganze Gepäck kommt immer nach. Wir sitzen in einem Abteil 2. Klasse ohne Fensterscheiben. Zum Glück haben wir soviele Kleidungsstücke übereinander an, daß wir nicht frieren. Der Zug rollt und rollt. Irgendwo gibt es auch etwas zu essen, was uns aber nicht schmecken will. Wir dösen und werden nur wach, wenn wieder mal die Sirenen in den Bahnhöfen heulen, die wir passieren. In halbwachem Zustand notieren wir die Namen der Bahnhöfe Rostock, Lübeck, Rendsburg bis hinauf nach Schleswig, wo unser Waggon abgekoppelt wir, bevor der ganze Zug weiter nach Flensburg und über die Grenze nach Dänemark fährt. Wir werden nach Niebüll verfrachtet, wo unsere Reise zu Ende zu sein scheint, denn man weist uns in die Klassenräume einer Schule ein, wo warme Erbsensuppe ausgeteilt wird und wo wir richtige Betten zum Schlafen bekommen. Mutti empfindet dankbar die Fürsorge, die man uns angedeihen läßt. Am nächsten Morgen erfahren wir, daß unsere Reise keineswegs ein Ende hat, denn wir werden nach Dagebüll ans Meer gebracht, von wo wir mit dem Schiff zur Insel Amrum fahren.

Hier in Wittdün bekommen wir ein Zimmer in einer Bäckerei bei Frau Reeps zugewiesen. Die Bäckerei wird noch von Soldaten betrieben, die hier auf der Insel stationiert sind. Freundlich, jedoch kühl, zeigt uns Frau Reeps unsere Zukünftige Bleibe, ein für Sommergäste eingerichtetes Schlafzimmer, sauber, aber ohne Heizung. Wir sind dankbar, daß wir alles heil überstanden haben und richten uns so gut es geht ein.

Ob wir uns je an die kahle Dünenlandschaft und die sehr heftigen Frühjahrsstürme gewöhnen werden? Wir erfahren viel Gutes durch die noch auf Amrum stationierten Soldaten, Sie backen in der Bäckerei hie und da etwas mit; sie bringen uns auch fertiggenähte Marinemützen und maschinengestrickte Pulswärmer aus der Wehrmachtsschneiderei. Dafür laden wir sie zum Kaffe ein. Mutti kann aus allen Fetzen etwas für uns nähen. Später im Jahr bekommen wir einen großen Raum in einem jetzt leerstehenden Kinderheim, direkt am Meer. Wir haben sehr wenig Brennmaterial und frieren in den hohen Räumen, auch sind die Lebensmittel rechtknapp, denn nur zweimal in der Woche kommt das Fährschiff und bringt etwas Magermilch und wenig andere Nahrungsmittel, Post ist anfangs nie für uns dabei. Mutti grämt sich sehr um meine Vater und meinen Bruder Fredi. Wochenlang sucht meine Mutter noch nach unserem Gepäck. Es muß wohl nach Dänemark gekommen sein und ist sicher dort verteilt worden. Wir haben also buchstäblich alles verloren, bis auf ein paar Fotos und Schmuckstücke, die Mutti in der Handtasche hatte. Ich laufe den ganzen Sommer über in dicken Winterstiefeln oder barfuß herum und bekomme ein Kleid aus einer gewendeten Kleiderschürze von Frau Reeps. Meine Mutter näht für die Insulaner, dafür werden wir zum Essen eingeladen. Trotzdem habe ich immer Hunger, ich nehme 6 kg ab und falle beim Anstehen nach der Magermilch in Ohnmacht. Ich besuche wieder die Volksschule und bekomme privat Unterricht in Englisch. Langsam erfahren wir auch mehr und mehr Adressen von Balgaern und Verwandten. Tante Hanne ist gut bei unseren Verwandten Wakke in St. Gangloff/Thüringen gelandet, (dies war auch unser Fluchtziel) bald kommt auch Onkel Paul dorthin. Sie bleiben jedoch nicht lange in der russischen Zone. Sie finden ihre Bleibe in Göttingen. Meine Mutter grämt sich sehr und sehnt sich nach einer Nachricht von unseren Lieben. Wenn sie mit mir über die Flucht und den Verlust unserer Heimat sprechen will, blockiere ich alles – ich mag darüber nicht reden.

Am 5. März 1946 erfahren wir durch in Hamburg lebende Balgaer, daß mein Bruder Fredi lebt und sich – aus französischer Gefangenschaft mehr tot als lebendig entlassen – in Oberjesingen Krs. Böblingen  befindet. Überglücklich schreibt Mutti einen langen Brief an ihn und braucht nicht lange auf Antwort zu warten. Fredi will, daß wir nach Süddeutschland kommen, da er schon Wohnung und Arbeit gefunden habe. All zu gerne sind wir dazu bereit, sind wir doch auf der kahlen, stürmischen Insel nicht heimisch geworden. Mutti muß nur erst die angenommenen Näharbeiten fertigstellen, dann hält uns nichts mehr. Vom Amrumer Militärdepot haben wir ein paar Möbelstücke erwerben können, die per Bahn nach Herrenberg geschickt werden, dann geht es erneut auf die Reise. In Hannoversch Münden verlassen wir den Zug und gehen zu Fuß und schwarz über die britisch/amerikanische Zonengrenze. In Herrenberg angekommen, holt Fredi uns mit einem Wagen ab. Ich bin närrisch vor Freude über das Wiedersehen mit meinem großen Bruder. In Oberjesingen beziehen wir ein winziges Zimmerchen unter dem Dach. Mutti verdient wieder unseren Lebensunterhalt mit Nähen. Ich besuche die Oberschule für Jungen in Herrenberg was mit einem täglichen Fußmarsch  von 5 km hin und 5 km zurück verbunden ist. Wir lesen Ähren auf den Feldern und suchen Bucheckern im Wald und nähen viel. Obwohl wir anfangs den Dialekt der Oberjesinger kaum verstehen können, haben wir besseren Kontakt zu der Bevölkerung als auf Amrum. Die Menschen hier sind wärmer und hilfsbereiter als die Friesen.

Nach langer Ungewissheit erhalten wir Ende 1947 das erste Lebenszeichen von meinem Vater, eine an den Onkel Hermann Wakke, St. Gangloff/Thüringen adressierte Karte aus Rußland, Absender: Rotes Kreuz in Moskau. Erst im Dezember 1949, nach nahe zu 5-jähriger Gefangenschaft dürfen wir ihn auf dem Herrenberger Bahnhof umarmen. Es ist ein großer Freudentag.

Seit 42 Jahren wohne ich nun hier in der lieblichen Gäulandschaft von Herrenberg, die mir die zweite Heimat geworden ist, wohl auch weil ich hier einen lieben Ehegefährten gefunden habe, der großes Interesse für meine verlorene Heimat zeigt, wofür ich ihm dankbar bin. Doch immer wieder einmal wird die Sehnsucht übermächtig: einmal noch das Haff in Balga sehen dürfen!

Vor 4 Jahren waren wir von Danzig aus am Haff in Tolkemit und haben mit meinem Bruder eine Segeltour von Kahlberg bis Frauenburg und zurück gemacht. Auf der Nehrung sind wir bis zur russischen Grenze gelaufen und haben uns in Alt-Passarge die Augen ausgeguckt nach Balga. Es war bitter, nicht hinzukönnen.

Gez. Gundula Sauer, geb. Müller

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