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Samstag, 23. November 2024

Mein Leben als Wolfskind: Erinnerungen an meine Kindheit und die Erlebnisse, die ich als Waisen- und Wolfskind in Ostpreußen nach Kriegsende 1945 erlebt habe

von Bruno Roepschläger

   


Bis zum Ende des Jahres 1944 wohnte unsere Familie Roepschläger glücklich und zufrieden in Groß Hoppenbruch, Kreis Heiligenbeil/Ostpreußen.
Meine Mutter Berta, geb. Bortz  wurde 1902 geboren. Sie kam aus Follendorf vom Lindenberg.
Mein Vater Erich Roepschläger wurde am 04.07.1898 in Grünwiese, Kreis Heiligenbeil geboren. Er war von Beruf Stellmachermeister.
Meine Eltern bauten in der Nähe der ehemaligen Wassermühle in Groß Hoppenbruch ein neues Haus welches wir 1941 bezogen.
Am 04.10.1937 wurde ich in Groß Hoppenbruch geboren. Meine Schwester Erika, kam im September 1935 in Groß Hoppenbruch auf die Welt.
1943 wurde ich eingeschult. Meine Großeltern und einige Verwandte wohnten am Lindenberg bei Follendorf und in Schneewalde bei Ludwigsort, Kreis Heiligenbeil.

Wir hatten eine schöne und glückliche Kindheit. In den Sommermonaten vergnügten wir uns am Mühlenfließ. Im Winter spielten und rodelten wir im Schnee. Langeweile kannten wir nicht. Der Rohrteich war im Winter zugefroren und unsere Eltern richteten dort eine Ringelbahn ein. Alle Kinder des Dorfes hatten großen Spaß an der verschneiten Winterwelt.

Kurz vor Weihnachten 1943 hatte ich beim Rodeln mit meiner Schwester mein erstes folgenschweres Unglück. Wir spielten mit anderen Kindern im Schnee. Die kleineren Kinder benutzten für den Heimweg den Fußweg, der zum Hof von Max Kahlfeld führte. Wir Kinder durften nicht auf der Straße rodeln. Meine Schwester und ich taten es aber trotzdem. Wir fuhren mit dem Schlitten die Straße herunter. Vor dem Gasthaus Knorr stand ein Pferdeschlitten mit 2 Pferden. Der Kutscher war im Gasthaus eingekehrt. Wir konnten den Pferdeschlitten nicht sehen und rasten ohne zu bremsen auf das Pferdegespann zu. Erika hatte Glück und fiel vom Schlitten. Ich fuhr dann in die Vorderbeine der Pferde und habe mich dabei schwer am Kopf verletzt. Wer mich damals gerettet und nach Hause gefahren hat, das habe ich vergessen. Meine Eltern erzählten mir, dass mich der Bauer Erich Rommel mit seinem Auto nach Königsberg ins Krankenhaus gefahren hat. Einige Tage war ich bewusstlos. Die Narben an meinem Kopf sind heute noch zu sehen.

Mein Vater bildete als Meister in seiner Werkstatt ständig Lehrlinge aus. Ein Kriegsgefangener, der Weißrusse Wasilij, arbeitete auch in seiner Werkstatt. Er wohnte mit  dem Lehrling in einem Zimmer. Beide wurden in unsere Familie aufgenommen, denn für meinen Vater gab es keine Unterschiede. Als Wasilij 1943 an TBC erkrankte, wurde er entlassen und konnte zurück in seine Heimat.

Mutters Bruder, Bruno Bortz vom Lindenberg aus Follendorf, bewirtschaftete dort einen Hof mit gut 50 ha Acker, Wiese und Waldgebiet. Als er zum Militär eingezogen wurde, hatte  seine Frau Olga mit einigen Kriegsgefangenen die Arbeit auf dem Hof weitergeführt. Mein Vater half so gut er konnte. In Follendorf und so auch auf dem Hof meines Onkels gab es noch keinen Strom. Bei der Ernte und beim Dreschen war Hilfe besonders notwendig.
1944 ist mein Onkel Bruno bei Schirwinten in Ostpreußen gefallen.
Meine Tante Olga Bortz musste mit ihrer Familie schon vor Weihnachten 1944 den Hof verlassen.
Auf dem Hof richtete die Wehrmacht eine Werkstätte ein. Unsere Großeltern wurden zunächst in einem provisorischen Altenheim in Balga untergebracht. Sie starben noch vor Kriegsende.
In Follendorf wohnte  auch meine Tante Hedwig Blumenthal, die Schwester meiner Mutter, mit ihrem Mann Otto und vier Kindern. Die Familie besaß dort einen kleinen Hof, der sehr dicht am Frischen Haff  lag. Der Onkel arbeitete noch zusätzlich als Fischer. Meine Schwester und ich haben dort im Sommer viel Zeit verbracht. Nur wer das Frische  Haff kennt, kann erahnen, was wir dort für herrliche Tage verlebten.

Heute bin ich immer traurig, wenn ich daran denke, was dort 1945 alles geschah.
Es gab nur noch Hunger, Gewalt, Krankheiten und Tod.
Die Front rückte nun immer schneller näher. Mein Vater wurde zum Volkssturm eingezogen. Im Februar 1945 gab es einen größeren Bombenangriff auf Groß Hoppenbruch. Danach mussten wir unser Haus verlassen. Nun begann unsere Flucht.
Meine schöne Heimat kann ich bis heute nicht vergessen. Was haben ich dort für wunderschöne Kindheitsjahre erlebt.
Nach dem großen Bombenangriff verließen wir mit weiteren Einwohnern - ungefähr am 21/22. Februar - Groß Hoppenbruch. Bei Nacht ging es in Richtung Balga und dann über das zugefrorenen Haff. Kurz vor der Nehrung gab es eine Rinne. Nun wurden wir mit einem Boot übergesetzt. Wir fanden auch eine Unterkunft. Mein Vater, der uns begleitete, musste aber wieder zurück zum Volkssturm. Wie unser Weg weiter ging, kann ich nicht mehr sagen. Wir waren dann für einige Tage oder Wochen in Fischhausen untergebracht. Ständig gab es Angriffe aus der Luft. Fliegeralarm gab es schon lange nicht mehr.

Am  07. April 1945 gab es um 18:00 Uhr einen größeren Bombenangriff auf Fischhausen. Das Militär  hatte fast alle Luftschutzkeller belegt. Auch in unserem Haus belegte die Wehrmacht den Keller. Obwohl die Bomben rings um uns einschlugen, saßen wir ohne Schutz in unseren Zimmern. Plötzlich gab es eine große Detonation. Fenster und Türen flogen aus den Wänden, alle Scheiben zerbrachen in kleine Stücke und wurden durch die Räume geschleudert. Viel Mauerwerk wurde zerstört. Wir glaubten, dass der Militärstab getroffen werden sollte.
Meine Mutter wurde bei diesem Angriff durch Glassplitter an der Halsschlagader tödlich verletzt.  Wo und wann meine Mutter beerdigt wurde weiß ich nicht mehr. Meine Schwester Erika und ich wurden ebenfalls durch Glasscherben schwer verletzt. Durch die Zerstörungen und die vielen Verwundeten kam es zu einem großen Chaos. Bei dieser Explosion stand ich vor dem Fenster und wurde durch viele Splitter am Kopf so verletzt, dass ich für einige Tage blind war. Meine Schwester stand während der Detonation mit dem Rücken zum Fenster und wurde am Hinterkopf und Nacken schwer getroffen. Unsere Familie wurde durch diesen Angriff zerstört. Wie meine Schwester aus dem Haus kam habe ich nicht erfahren. Ich selbst konnte weder etwas hören noch sehen. Trotzdem bemühte ich mich, aus dem Fenster zu klettern. Durch den vielen Schutt, der überall herum lag, fand ich kaum das Fenster. Über eine Fensterbank kam ich schließlich ins Freie. An meinen Händen klebte mein Blut. Mein Ziel war der Keller, wo ich mir Hilfe von den Soldaten erhoffte. Ohne etwas zu sehen, war es schwer, die Tür und die Treppe zu finden. Überall stolperte ich über Schutt. Endlich war ich im Keller angekommen, und bekam die erste medizinische Hilfe. Wie es weiterging kann ich nicht mehr sagen. Ich war erst 7½ Jahre alt und schwer verletzt.
Die jüngste Tochter meiner Tante Hedwig Blumenthal (aus Follendorf) kam bei diesem Bombenangriff ebenfalls ums Leben. Alle Verwundeten wurden mit ihren Angehörigen noch in der gleichen Nacht nach Palmnicken transportiert. Dort wurden wir in einem großen Raum untergebracht und versorgt. Schon am nächsten Morgen kam mein Vater zu uns. Er war traurig und erschüttert über das was geschehen war. Die meisten der Verwundeten kamen nicht ins Krankenhaus, weil alles überfüllt war. Alle Verwundeten wurden aber ständig im Krankenhaus medizinisch versorgt. Erika konnte nicht mehr gehen und lag nur auf Stroh. Ich war noch immer blind. Jeden zweiten Tag mussten Erika und ich zum Verbinden. Meine Schwester wurde von meinem Vater getragen. Ob es für uns noch Verpflegung gab, weiß ich  nicht mehr.

Inzwischen waren die Russen bis nach Palmnicken vorgedrungen. Es dauerte nur noch kurz und Palmnicken war von den Russen besetzt. Dadurch verschlechterte sich unsere Lage sehr. Die Russen beraubten die Einwohner und Flüchtlinge, wo sie nur konnten. Zuerst nahmen sie uns die Schmucksachen weg.
Meine Schwester Erika ist, soweit ich mich erinnern kann, etwa 10 Tage nach dem großen  Bombenangriff an ihren Verletzungen gestorben. Erika wurde in einem Massengrab neben dem Krankenhaus beerdigt.

Nachdem die Russen Palmnicken eingenommen hatten, wurden alle Männer eingesperrt, und wie bei den Russen üblich, Tag und Nacht verhört. Das Militär ordnete an, dass alle Leute in ihre Heimatorte zurückkehren sollten.
Es waren fast nur Kinder, Frauen und alte Leute, die sich zu Fuß auf den Heimweg machen mussten. Das Wenige was sie noch besaßen nahmen sie mit. Es wurden Kolonnen von 25 – 40 Leuten gebildet. Mindestens ein bewaffneter Soldat begleitete eine Kolonne.
Kaum waren wir aus Palmnicken heraus, wurde unsere Kolonne angehalten und erneut wurden Wertsachen und Schmuck geplündert. Wenn nichts freiwillig gegeben wurde, wurde eine Durchsuchung mit schlimmen Folgen angedroht. Diese Räubereien haben sich wie selbstverständlich immer wiederholt. Die Begleitung hat gegen die Überfälle nichts unternommen, weil es meistens russ. Offiziere waren, die plünderten.
Auf unserem Heimweg nach Ludwigsort legten wir pro Tag etwa 30 km zurück. Ich hatte dabei noch immer meinen Verband um den Kopf.

Eines Abends, nicht weit von Königsberg entfernt, konnten wir in einer Scheune auf Stroh  übernachten. Als es dunkel wurde kamen die Russen. Sie holten sich Frauen. Viele Frauen riefen um Hilfe. Niemand wagte den Frauen zu helfen. Kinder weinten und schrien. Ich kann diese Schandtaten nicht vergessen. Sie wiederholten sich aber häufig. Diese Zeit ist mir in besonders schlechter Erinnerung geblieben.

Wir brauchten gut 4-5 Tage bis wir in Groß Hoppenbruch angekommen waren. Unser Haus haben wir ohne große Beschädigung vorgefunden. Nur eine Granate hatte das Dach beschädigt. Aber das ganze Haus war total leer geplündert. Alle Fenster, Türen, Möbel und alle Maschinen  aus der Werkstatt waren geraubt. Nichts war mehr übrig. In Groß Hoppenbruch waren viele Gebäude zerstört. Das Dorf war wie ausgestorben. Wir haben - außer dem Schmiedemeister Fritz Vorwald - nicht einen Bürger aus Groß Hoppenbruch angetroffen.

Fritz Vorwald war krank und kraftlos. Das Haus, in dem der Schmiedemeister wohnte war abgebrannt. Mein Vater nahm ihn zu uns ins Haus. Für unser Überleben war es nun wichtig, dass Vater für uns etwas zum Essen besorgen konnte. Es gab in Groß Hoppenbruch und Umgebung keine Arbeit, so konnten wir auch nichts verdienen und nichts kaufen. Beide Männer machten sich große Sorgen. Da fiel meinem Vater ein, dass er, bevor er das Haus verlassen hatte, etwa 10 große Dosen in unserem Hauskeller vergraben hatte. Wir freuten uns sehr, konnten aber nicht lange davon leben. Später sind dann mein Vater und ich oft zum Haffstrand nach Balga und Follendorf  gegangen, um nach Essen zu suchen. Bei den vielen Militärfahrzeugen und Gulaschküchen, die in der Landschaft lagen, waren meistens noch Kleinigkeiten zu finden.

Was ich damals am Strand - als so kleiner Junge - an Grausamkeiten und Chaos erlebt und gesehen habe, kann und werde ich, solange ich lebe, nicht vergessen. Das Wasser, der Strand und die Wiesen waren,  soweit man schauen konnte, total mit militärischem Material, toten Menschen und Tieren zugedeckt. Es war alles so grausam und ungeheuerlich.
Nach dem offiziellen Kriegsende schaffte das russische Militär  alles Brauchbare  nach Groß Hoppenbruch. Dort wurde es auf Güterzüge verladen und nach Russland transportiert.
In Groß Hoppenbruch und dem Umland wurden wir später einige Male von bewaffneten russischen und polnischen Jugendbanden (14 – 16 Jahre) überfallen und ausgeraubt. Das war wohl in ganz Ostpreußen so.
Bei einem Überfall wurde Fritz Vorwald in unserem Haus überfallen und von einem Jungen angeschossen. Fritz wollte sich nicht das Mehl, welches gerade in einem Sack vor unserem Haus stand, stehlen lassen. Er hat den Jungen laut angeschrien. Dieser schoss sofort und verletzte Fritz schwer. Im Haus von Gustav Haack waren 12-16 russische Soldaten. Als sie das Schießen hörten, waren sie nach wenigen Minuten an unserem Haus und wollten wissen, was geschehen war. Es war schwer den Soldaten zu erklären was vorgefallen war. Die Russen waren aber so freundlich und fuhren Fritz Vorwald mit Pferd und Wagen nach Heiligenbeil ins Krankenhaus. Was dort mit ihm geschah kann ich nicht sagen.
Nun waren mein Vater und ich wieder allein.
Auf einem Stück Land versuchte mein Papi Kartoffeln anzupflanzen. Das machte viel Mühe. Leider haben wir die Kartoffeln nie geerntet, denn wir zogen im Sommer 1945 nach Rosenberg. In einer Kolchose fand mein Vater Arbeit. Gehalt gab es nicht. Nur für die Arbeitenden gab es ein kostenloses Essen. Mein Vater erreichte aber, dass auch ich etwas zum Essen bekam.
Im Herbst 1945 kam es in Rosenberg zu einem tödlichen Unfall, bei dem ich mit kleinen Verletzungen glimpflich davon kam. Wir Kinder hatten keine Schule und immer genügend Zeit um Dummheiten zu machen. Überall, wo man ging und stand, fand man scharfe Munition. Wir Jungen versuchten die Patronen zu öffnen und das Schwarz-(Spreng)-pulver zu sammeln. Ein zwei Jahre älterer Junge erzählte mir, dass er schon einige Geschosse ganz leicht zerlegt hätte. Auf einem Feld bei Rosenberg sammelten wir viele Geschosse. In der Nähe eines alten Flakgeschützes wollten wir die Geschosse zerlegen um das Sprengpulver herauszuholen. Mein Freund hatte schon etwas Übung. Als er mit einem Stein auf eine Granate schlug explodierte diese. Er wurde durch Splitter am Kopf  getroffen und ein Arm wurde abgerissen. Er war sofort tot und niemand konnte ihm mehr helfen. Ich blieb so gut wie unverletzt.
- 1993 traf ich in Burgdorf beim Heimattreffen der Heiligenbeiler eine Frau, sie war die Schwester dieses Jungen. -

Im folgenden Winter 1946/1947 gab es für meinen Vater keine Arbeit mehr. Er versuchte in Heiligenbeil Arbeit zu finden. Schließlich fand er Arbeit in einer militärischen Wäscherei gleich neben dem alten Schlachthof in der Braunsberger Straße. Dort arbeiteten noch einige Deutsche. Wir wohnten in einem kleinen Haus, an der Braunsberger Straße. Dieses Haus steht noch heute. Gegenüber befindet sich heute eine Tankstelle.
Zwei Männer, die mit meinem Vater arbeiteten und bei der Wehrmacht waren, unterhielten sich viel mit meinem Vater. Sie beratschlagten, wie sie eventuell schwarz über die Grenze kommen könnten. Einer der Männer konnte gut polnisch. Was sie aber wirklich vor hatten, haben sie meinem Vater nicht gesagt.

Danach passierte dann folgende Geschichte. Russische Soldaten holten häufig mit Fuhrwerken Heu aus Polen, um es über die Grenze bei Heiligenbeil nach Königsberg zu schaffen. Eines Abends kamen 4-5 Mann mit mehreren Fuhrwerken. Sie wollten hier eine Pause mit Übernachtung einlegen. Am Haus stand eine leere Scheune, die sich gut eignete, die Pferde unterzustellen. Die Soldaten nahmen sich Heu mit auf ihr Zimmer, um darauf zu schlafen. Am nächsten Morgen wollten die Männer sehr früh mit ihren Fuhrwerken in Richtung Königsberg weiterfahren. Es gab Schwierigkeiten, denn einer der Soldaten konnte seine Uniformjacke nicht finden. Die Wohnung hatte zwei Zimmer, mit einem offenen Durchgang und keine Küche. Alles wurde in dieser Wohnung bis in die letzte Ecke durchsucht. Sonst wohnten und schliefen hier nur vier Personen. Ich glaube, einer der Männer wollte uns etwas Böses antun. Auf jeden Fall behaupteten die Männer, sie hätten die Uniformjacke in einer Ecke unter unseren Betten gefunden. Vielleicht wollten sie meinen Vater beseitigen.
Sofort nahmen die Soldaten meinen Vater und mich mit nach draußen und stellten ihn vor eine Mauer. Er sollte gestehen! Einige stießen Drohungen aus und fuchtelten mit scharfen Waffen herum. Damit schossen sie auch in die Luft. Nach einer Weile ließen sie mich laufen.  Ich lief ganz schnell weg und habe mich versteckt. Ich fing an heftig zu weinen. Danach konnte mein Vater einige Tage nicht zur Arbeit gehen. Sicher war er misshandelt worden. Später nach ca. zwei Wochen waren diese beiden Männer spurlos verschwunden.
Danach  hatte ich eine lange Zeit viel Angst vor russischen Soldaten Auch hatte ich keine guten Eindrücke von den Russen.

Im Herbst 1946 kam die erste russische, zivile Bevölkerung nach Heiligenbeil. Es gab keine Betriebe und so gut wie keine Arbeit. Schlimmer war, dass die Lebensmittel immer weniger wurden. Besonders die alten Menschen litten darunter. Im Dezember wurde uns dann mitgeteilt, dass die Wäscherei in Heiligenbeil geschlossen wird. Mein Vater wurde dadurch wieder arbeitslos.
Anfang 1947 war mein Vater wieder  auf Arbeitssuche. Er entschloss sich in der Nähe von Ludwigsort zu suchen. Ein Grund dafür war, dass in Schwanis bei Ludwigsort die Schwägerin von meinem Vater und auch mein Opa wohnten. Vater fand dann eine Stelle in einer Kolchose in Pohren. Er konnte dort in seinem Beruf als Stellmacher arbeiten und war für die kleine Mühle zuständig. Vater hat dort auch das Schrot für die Schweine gemahlen. Dann wurde mein Vater krank. Er musste die Arbeit in Pohren ganz einstellen. Eines Morgens lag mein Vater tot im Bett.

Von nun an war ich alleine; ich war ein Vollwaisenkind. Ich stand ganz alleine da und wusste nicht was ich machen sollte. Für mich war meine kleine Welt zusammen gebrochen. War mein Leben nun zu Ende? Ich ging von Pohren nach Schwanis (ca. 5 km) zu meinem Großvater August Roepschläger und zu meiner Tante um zu berichten, was geschehen war. Es war der 03. März 1947, es lag viel Schnee und es war bitter kalt. Am nächsten Tag fuhren mein Opa und ich mit einem Sarg auf dem Schlitten nach Poren, um den Leichnam meines Vaters nach Schwanis zu holen. Wir haben dann am nächsten Tag meinen Vater auf dem Friedhof in Ludwigsort bestattet. Weil wir keinen freien Platz mehr fanden, haben wir am Rand vom Friedhof an einer Hecke, meinen Vater beigesetzt. Danach durfte ich bei meiner Tante und meinem Opa in Schwanis wohnen. Ich war jetzt gerade erst 9½ Jahre alt. Weil die Vorräte weiter zur Neige gingen, gab es ständig weniger zu essen.

Alle Leute haben damals auf den Frühling gewartet. Im April 1947 starb dann auch mein Großvater. Das Schicksal traf mich in so kurzer Zeit gleich zweimal.  Ich war sehr traurig und fassungslos. Die Menschen starben überall. Besonders traf es Kinder und alte Menschen. Für die Kranken gab es auch keine ärztliche Hilfe. Das Schicksal der Menschen hing von der Willkür der Sieger des zweiten Weltkrieges ab.
Mit dem beginnenden Frühling 1947 wurde es dann tatsächlich ein bisschen besser. Die Natur erholte sich und die Leute suchten nach essbaren Kräutern, wie z.B. Brennnessel, Gänsefuß, Sauerampfer. Wir gingen auf die Felder, wo im vorigen Jahr Kartoffel angebaut wurden. Dort suchten wir nach gefrorenen Kartoffeln. Daraus wurde Kartoffelmehl (Stärke) gewonnen. Das war schon ein wichtiger Bestandteil für einen Eintopf. Die Frauen waren damals sehr erfinderisch. Es mangelte aber an allen Sachen. Im Sommer waren die Leute froh, weil sie sich nicht gegen die Kälte zu schützen brauchten. Manche ältere Männer probierten Ihr Glück mit Angeln um an Nahrung zu kommen. Das Glück war klein und der Fang ebenfalls.  Als Kinder hatten wir damals nur den einen Wunsch, uns einmal richtig satt zu essen. Um andere Sachen haben wir uns nicht gekümmert.

Die Vorräte meiner Tante gingen mit dem Frühling auch zur Neige. In der Winterzeit gab es für die Frauen keine Arbeit und Ersparnisse gab es schon lange nicht mehr. Es blieb den Frauen nichts anderes übrig, als ihre persönlichen Sachen an russische Frauen gegen Lebensmittel einzutauschen. Aber auch hier hatten die meisten wenig Erfolg. Bei meiner Bettelei hatte ich leider auch keinen Erfolg. Die Russen waren doch wie wir, auch alles arme Leute.

Meine Tante wollte auch nicht mehr ihre Sachen für Lebensmittel eintauschen. Ich sollte es einmal versuchen. Aber ich hatte auch wenig Erfolg. Die russischen Frauen wollten mich betrügen. Ich suchte immer nach etwas Essbarem, gleich ob es Kartoffelschalen oder Anderes war. An allen Häusern in denen Russen wohnten durchsuchte ich die Kehrichthaufen. Es war mir aber sehr unangenehm. Wir Kinder gingen oft zu den Bäckereien und suchten die Abfallhaufen nach großen und kleinen Brotkrusten ab. Aber meistens ohne Erfolg. Manchmal wurden wir auch verjagt.

Bei diesen Aktionen hatte ich mich mit anderen Kindern angefreundet, die ich auf der Suche nach essbarem kennen gelernt hatte. Sie erzählten mir, dass sie in einigen Tagen mit Güterzügen von Königsberg nach Litauen fahren wollten. Einige dieser Kinder waren schon in Litauen gewesen und hatten in den Dörfern gebettelt. Das habe ich  meiner Tante erzählt. Ich wollte mit ihnen fahren. Sie sagte zu mir: „Probiere es mal aus, aber komme zurück“.

Wir waren zu Dritt. Es war im Sommer 1947 und wir gingen zu Fuß von Ludwigsort nach Königsberg. Es waren gut 30 km. In Königsberg erkundigten wir uns, welche Züge nach Litauen fahren. Wir erkundeten die Lage. Als sich der Zug in Bewegung setzte, sprangen wir schnell auf. Das war natürlich verboten. Die Züge wurden von Militärbeamten kontrolliert und durchsucht. Deutsche und auch Kinder durften Ostpreußen nicht verlassen. Keiner durfte damals ins Nachbarland Litauen reisen. Jegliches Reisen war verboten.

Wir kamen 1947 gut in Litauen an. Keiner hatte uns vom Zug verjagt. An welcher Station wir ankamen weiß ich nicht mehr. Danach gingen wir in einer kleinen Gruppe durch viele Dörfer. Auf den Bauernhöfen bettelten wir um etwas Essbares. Manche Kinder kehrten schon nach kurzer Zeit mit ihrer Beute zurück. Schon am ersten Tag merkten wir, dass alles nicht so einfach war. Wir konnten uns mit den fremden Leuten nicht verständigen. In Ostpreußen hatten wir schon viele russische Wörter gelernt. Aber hier auf dem Lande kannten die Bauern nicht viele russische Worte. Wir merkten sehr schnell, dass wir in diesem litauischen Gebiet nicht überall gerne willkommen waren. In manchen Fällen wurden wir auch mit Hunden vom Hof gejagt. Zu dieser Zeit gab es viele, elternlose, hungrige, deutsche Kinder. In Litauen auch „Stromer“ genannt. Die Kinder waren durch den Krieg zu Waisen geworden. Sie schlugen sich mit Betteln durch und sahen zum Teil auch sehr verwahrlost aus. Man nannte diese Kinder Wolfskinder.
Gegen Abend versuchten wir immer bei den Bauern in einer Scheune zu übernachten. Aber die Bauern hatten Angst, dass wir durch Feuer Schaden anrichten könnten. Es wurde auch immer nach Streichhölzern gefragt.

Nach einiger Zeit trennte sich unsere Gruppe. Jeder ging seinen eigenen Weg. Schon damals behielten manche Bauern die Kinder zum Vieh hüten auf dem Hof. Man musste bis zum Umfallen arbeiten. Von Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang sollte man beim Vieh bleiben. Die kleinen „Hirten“ mussten um 5:30 aufstehen und bis um 22:00 arbeiten. Das war für uns Kinder nicht so einfach. Am Anfang war die Arbeit für mich sehr schwer. Ich war noch ein Kind, und solche Arbeit nicht gewohnt. Ich war abgemagert und ohne Kraft. Anfangs war ich immer sehr müde. Ich hatte wenig Erfahrung mit der Arbeit und konnte mich mit dem Bauern nur sehr schlecht verständigen. Der erste Bauer bei dem ich arbeitete gefiel mir sehr gut. Nach 14 Tagen Probe nahm er mich bei sich auf. An den ersten Tagen beim Vieh hüten hat mich ein älterer Junge begleitet und mir alles erklärt. Vier Kühe, 1 Bulle und mehrere Schafe waren zu hüten. Die Bauernfamilie war sehr nett zu mir und das Essen war auch gut. Leider hat die gute Zeit nicht lange gedauert. Der  Bulle, der mich noch nicht richtig kannte, hat mich mit den Hörnern gestoßen. Zum Glück war der ältere Junge noch dabei. Er hat den Bullen davon getrieben. Was hätte nicht alles passieren können, wenn er mir nicht geholfen hätte. Zum Glück kam ich mit einigen blauen Flecken und einem großen Schrecken davon. Gott sei Dank!
Damit war mein Glück bei diesem Bauern zu Ende und ich zog weiter als ein verlorenes Kind in der Fremde.

Nach einigen Tagen kam ich zu einem neuen Bauern. Wir konnten uns etwas Deutsch und Russisch unterhalten. Ich fragte ihn, ob er einen Hirten für sein Vieh braucht. Der Bauer meinte, es wäre nicht schlecht, wenn ich bei ihm bleiben würde. Nach einigen Tagen merkte ich, dass dies ein Fehler war. Der Bauer war ein sehr böser Mensch. Seine Familie hat unter ihm schwer gelitten. Im ganzen Dorf war er als Querkopf bekannt und niemand konnte ihn leiden. Er besaß 16  ha Ackerland und seine Gebäude sahen recht gut aus. Das Haus war vor ca. zwei Jahren gebaut worden. Alle Gebäude waren aus Holz gebaut. Die Familie hatte 5 Kinder, von denen schon ein Sohn und eine Tochter aus dem Haus waren. Wegen des schlechten Ackerbodens waren die Ernten entsprechend gering.
Der Bauer und seine Frau verlangten von mir ein ordentliches Benehmen zu allen Leuten, die auf den Hof kamen. Ich sollte mich immer in einem bestimmten Abstand halten und mit niemandem ins Gespräch kommen. Nach einer sowjetischen Verordnung  durften litauische Familien keine Deutschen aufnehmen und auch nicht adoptieren. Jeder Verstoß wurde von der Regierung bestraft. Daher musste ich auch am Tage immer bei dem Vieh bleiben.

In den folgenden zwei Jahren habe ich die litauische Sprache erlernt und meine deutsche Muttersprache verlernt. Ich hatte in dem Dorf, wo ich lebte, keine Möglichkeit die Deutsche Sprache zu sprechen. Sehr oft dachte ich an die Vergangenheit. Wo waren nur meine weiteren Verwandten? Viele trübe Gedanken machten mich kaputt und ich wusste nicht wie es weiter gehen sollte. Ich stand damals als junger Mensch schon sehr unter Stress.

Meine Kleidung erhielt ich von den Kindern des Bauern.
Für die Bevölkerung wurde extra Flachs angebaut. Damit daraus Kleidung gefertigt werden konnte. Wenn man nicht selbst die Kleidung nähen konnte, kamen Wanderschneider die aus Stoffresten Kleider anfertigten.
Mit der Familie durfte ich an einem Tisch essen. Dabei fiel mir auf, dass der Bauer und die Bäuerin einen eigenen Teller hatten. Wir Kinder und die anderen Erwachsenen aßen aus einer Schüssel, die mitten auf dem Tisch stand.
Für einen Bauern war es sehr nützlich fremde Kinder als unbezahlte Arbeitskräfte zu haben. Viele Deutsche Kinder wurden wie Zitronen ausgequetscht. Die meisten Kinder durften - wie  auch ich - nicht zur Schule gehen. Wir Kinder hatten keine Rechte.
Es gab aber auch gute litauische Menschen. Sie behandelten die deutschen Kinder gut.

Litauen war damals ein Agrarland. Außer den Kolchosen gab es nur kleine Bauernhöfe, die über das ganze Land verstreut waren. Die Landwirtschaft war sehr primitiv. Es gab keinen Strom und auch keine Maschinen. Alles wurde durch Menschen und mit Pferden gemacht. Die Arbeit war hart. Im Winter wurde die Kornernte mit Dreschflegel (Knüppel aus Hartholz) bearbeitet. Manchmal waren es -10 Grad oder mehr. Ich habe dabei viel von der Landwirtschaft erfahren. Das Vieh wurde von mir gefüttert und getränkt, das Futter vorbereitet und der Stall sauber gehalten. Für die Bäuerin in der Küche und in den Stuben musste Holz vorbereitet werden. Im Winter musste ich dann mit den Männern in den Wald zum Holz schlagen und zuschneiden. Dann wurde es auf den Hof gefahren. Für mich war diese Arbeit sehr schwer, aber ich musste sie leisten.  - Es gab keine Langeweile.

Bei diesen Arbeiten lernte ich auch litauische Kinder meines Alters kennen, die auf den Nachbarhöfen wohnten. Später haben wir uns dann manchmal samstags oder sonntags auf den Höfen getroffen und gemeinsam ein Dampfbad genommen. Zu dieser Zeit konnte ich schon ganz gut litauisch sprechen. Wir Kinder durften nicht viel Zeit miteinander verbringen. Der Bauer und die Bäuerin fanden immer sofort Arbeiten für mich, die auch gleich ausgeführt werden mussten.
Die Litauische Bevölkerung war überwiegend katholisch und die Kirche hatte einen großen Einfluss auf die Menschen. Alle Arbeiten mussten bis zum Samstagabend fertig sein. Zur Kirche am Sonntag musste man zu Fuß gehen. Man kam an besonders vielen Höfen und Häusern vorbei. Jeder merkte, dass es Sonntag war und man nicht arbeiten musste. Dieses Verhalten ging später zurück, da der Kirchgang eingeschränkt wurde. Manche Kirchen wurden als Lagerhäuser genutzt. Es kam auch vor, dass Kirchen geschlossen wurden. Die Zahl der Gläubigen ging dadurch zurück.

Im Oktober 1951, ich war 14 Jahre alt, gab es zwischen dem Bauern, bei dem ich arbeitete, und mir einen Streit. Zu dieser Jahreszeit war es beim Hüten des Viehs schon sehr kalt. Ich wollte mir zum Wärmen ein kleines Feuer machen. Leider hatte ich aber keine Streichhölzer. Aus dem Herd in der Küche wollte ich mir etwas Glut holen. Nur worin sollte ich die Glut transportieren? Aus dem Gemüsegarten holte ich einige Kohlblätter und wickelte die Glut darin ein um sie schnell auf die Weide zu tragen. Aber der Bauer kam mir entgegen. Ich sprang schnell hinter die Scheune und legte die Glut gleich daneben ab. Der Bauer entdeckte die Glut und rief mich sofort zu sich. Er beschimpfte mich und behauptete ich wollte die Scheune in Brand stecken. Mit einer Peitsche wollte er mich verprügeln. Ich rannte schnell weg, in Richtung auf die Moorwiesen. Dabei verlor ich meine Holzklotzen. Ich rannte bis in das 30-40 cm tiefe eiskalte Wasser der Moorwiesen.  Der Bauer verfolgte mich, kam aber nicht in das eiskalte Wasser. Er beschimpfte mich etwa 20 bis 25 Minuten lang und ließ mich dann dort stehen. Ich ging anschließend zu meinem Vieh um es weiter zu hüten.
Kein Bauer aus der Nachbarschaft hatte zu meinem Bauern, bei dem ich wohnte,  eine gute Beziehung.
Infolge dieses Ereignisses, blieb mir nichts anderes übrig, als mir eine neue Arbeit und Unterkunft zu suchen.
Zu dieser Zeit existierten schon die Kolchosen. Die Bauern brauchten keine Hirten mehr für das Vieh. Die kleineren Bauern waren inzwischen alle enteignet und die Not der Bevölkerung wurde immer größer.
Es war schon sehr kalt. Ich hatte keine warme Kleidung. Nicht einmal warme Socken und Schuhe. Der Winter stand vor der Tür. An den Füßen hatte ich nur Fußlappen und Holzklotzen.
Zum Glück fand ich bei einem anderen Bauern eine neue Unterkunft und Arbeit. So ging mein Leben in Litauen weiter. Bei diesem Bauern aus dem gleichen Dorf gab es auch sehr viel schwere Arbeit für mich. Das Verhältnis zum Bauern und der Bäuerin war aber sehr viel menschlicher und besser für mich. Ich wurde nicht wegen jeder Kleinigkeit ausgeschimpft.
Nach einer kurzen Zeit bekam ich Probleme mit meinen Beinen und Füßen. Mein neuer Bauer hat mich dann ins Krankenhaus gefahren. Dort wurde ich an einem Bein (am Knie) und an einem Fuß operiert. Ich habe dann tatsächlich zwei Monate im Krankenhaus gelegen. Nach meiner Entlassung aus dem Krankenhaus ging es mir eine lange Zeit nicht so gut. Die Wunden heilten schlecht und eiterten noch lange. Ich konnte schlecht gehen. Durch das kranke Knie habe ich auch lange gehinkt. Ich glaubte, dass ich mein Leben lang behindert bleiben müsste.
Leider konnte mich der Bauer nicht länger behalten. Ich war zu dieser Zeit ein Pflegefall. Eigentlich sollte ich die Schweine hüten.  So brachte mich der Bauer in die Großstadt Kaunas, weil es dort größere und bessere Krankenhäuser gab. Im Krankenhaus wurde ich dauernd befragt.   Wo ich herkomme, wo meine Eltern geblieben sind, bei wem ich in Litauen gewohnt habe usw. usw.  Nach vier Monaten wurde ich aus dem Krankenhaus entlassen. Während dieser langen Zeit hatte ich keinerlei Besuch. Der Oberarzt der Kinderabteilung  entschied, dass ich im Kindersammelpunkt in Kaunas untergebracht werde. In den Städten gab es zu dieser Zeit viele elternlose, umherstreichende, hungrige Kinder verschiedener Nationalität. Man brachte sie in Gemeinschaftsunterkünfte. Diese Sammelstellen unterstanden dem Innenministerium. Der Innenminister war meist ein russischer Offizier. Wir Kinder durften uns in den Sammelstellen nicht frei bewegen. Wir standen ständig unter Bewachung. Die Kinder wurden nach ihrer Bildung und nach ihren Fähigkeiten befragt. Danach wurden sie auf verschiedene Schulen geschickt. Sie wohnten in Waisenhäusern. Im April 1952, mit 14½ Jahren wurde ich dort hingebracht. Nach kurzer Zeit kam ich nach Paneceysz (Panewegis). Hier wurde ich im Krankenhaus erneut am Bein operiert. Nach 6 Wochen ging es mir bedeutend besser.
Im Sommer oder Anfang Herbst 1952 kam ich nach Kaunas zurück. Im Oktober kam ich nach Viesvile (Wischwill) in ein Kinderheim. Dort konnte ich dann mit dem Unterricht in der Schule beginnen. Nach meinen neuen Papieren war ich damals erst dreizehn Jahre alt. In Wirklichkeit war ich 1½ Jahre älter. Ich besaß keine Deutschen Papiere, auch keine Fotos von mir und meiner Familie. Alles war während des Krieges verbrannt. Das Fehlen dieser Dinge brachte mich immer wieder in Schwierigkeiten. So musste ich zu den kleinen Kindern in die zweite Klasse gehen. Ich schämte mich, weil ich von allen Kindern der Längste war. Ich  konnte auch nichts daran ändern. In der Schule ging es mir gut. Nur manchmal wurde ich von größeren Kindern als kleiner Faschist beschimpft.

Wischwill (Litauen) liegt nicht weit entfernt von der Kreisstadt Jurbarkas (Georgenburg), am Fluss Nemunas (zu Deutsch: Memel). Früher gehörte das Gebiet zu Ostpreußen. Das Waisenhaus in Wischwill wurde 1951 gebaut und bestand aus 4 Gebäuden. Von den Schlafhäusern bis zu den Essräumen waren es ca. 350 m. Am Tag mussten wir viermal hin und zurück, egal wie das Wetter war.  Die Räume, die uns Kindern zur Verfügung standen, waren nicht besonders gut ausgestattet. In der kalten Jahreszeit wurden die Räume der Häuser durch Öfen erwärmt. Morgens und abends hatten wir nie warmes Wasser zum waschen. Nach etwa zwei Jahren gab es dann auch für uns warmes Wasser. An jedem zehnten Tag wurden wir zum Baden geschickt. Das Wasser war warm, aber es gab weder eine Dusche noch fließendes Wasser. Das Essen war einigermaßen gut, wir mussten nicht hungern. Unsere Bekleidung wurde uns je nach Jahreszeit zugeteilt.
Alle kleineren Orte und auch das Waisenhaus  waren nicht an das öffentliche Stromnetz angeschlossen. Das Dorf Wischwill hatte damals zwei kleine Generator-Stationen in der der Strom für die Gemeinde erzeugt wurde. Es gab nur morgens um 7:00 und abends nur bis 24:00 Uhr für kurze Zeit Strom. Der Leiter des Waisenhauses sorgte dafür, dass bald ein eigenes Elektro-Aggregat für das Haus angeschafft wurde. Das war ein großer Fortschritt. Alle Häuser hatten jetzt eine elektrische Beleuchtung.
 
Bis zu den Sommerferien 1953 war ich noch im 2. Schuljahr. In den Ferien habe ich aus eigener Kraft das Leistungsprogramm für die 3. Klasse erarbeitet. Zum Schulbeginn wurde ich durch das Lehrerkollegium geprüft. Zu meiner Freude konnte ich sogar die 3. Klasse überspringen, und wurde nun in die 4. Klasse aufgenommen. Es zeigte sich, dass ich mit der russischen Sprache so meine Schwierigkeiten hatte. 1955 beendete ich dann die 5. Klasse mit Erfolg.

Nun musste ich mit 16 Jahren, weil ich als Erwachsener galt, das Waisenhaus verlassen. In Wirklichkeit war ich ja schon 18 Jahre alt. Ich hatte schon lange den Wunsch Kraftfahrer zu werden. Der Heimleiter unterstützte mich dabei und besorgte mir eine Lehrstelle. 1956 bestand ich die Aufnahmeprüfung. Danach wurde ich als Hilfsarbeiter im Waisenhaus angestellt. Dies war eine große Auszeichnung für mich. Ende des Jahres 1956 bekam ich dann eine Stelle als Kraftfahrer im Waisenhaus. Hier habe ich dann neun Jahre als Kraftfahrer gearbeitet. Der Lastwagen wurde nicht nur von mir gefahren, sondern auch von mir gepflegt und repariert. Anfangs gab es kleinere Probleme aber mit der Zeit konnte ich alles zur allgemeinen Zufriedenheit erledigen. Ich musste nicht nur Kinder aus dem Waisenhaus transportieren, sondern auch größere Frachten fahren. Das Fahrzeug musste dann immer für die unterschiedlichen Ladungen umgerüstet werden.
Während meiner Arbeit für das Waisenhaus besuchte ich die Abendschule. Dadurch konnte ich den Abschluss der siebten Klasse an der Volksschule erreichen. Es war ein schwieriger Weg, denn oft kam ich spät nach Hause und musste noch für die Schule lernen. Aber alle Mühe hat sich gelohnt und ich war darüber sehr glücklich. Der Weg für weitere Ausbildungen war nun frei.
Wenn ich zurück blicke, begann mein Arbeitsleben im Waisenhaus bei null. Ich besaß so gut wie nichts. Ich war dankbar für die Kleidung die ich am Leibe trug. Außerdem hatte ich noch zweimal Unterwäsche, einmal Bettwäsche mit Bettzeug aus Wattefüllung. Ich bekam Essen und musste nichts bezahlen. So begann ich mein kleines Gehalt zu sparen. Als Kraftfahrer bekam ich schon etwas mehr. Zu dieser Zeit konnte ich auch noch nebenbei etwas verdienen.

Im Jahr 1957 lernte ich meine spätere Frau Aldona kennen. Sie wurde nach ihrer pädagogischen Ausbildung als Erzieherin im Waisenhaus von Wischwill (Viesvile) angestellt. Am 21. Oktober 1961 haben wir geheiratet. Nach einem Jahr (1962) wurde unser erster Sohn Gintaras geboren.
1962 begann ich ein Fernstudium zum Landwirtschafts-Techniker an einer Landwirtschafts-Schule. Dieses Studium habe ich mit Erfolg bestanden und wurde dann 1965 als Techniker im Waisenhaus angestellt. Alle Technischen Geräte und das Gebäude wurden von mir in Stand gehalten. Für das mir entgegengebrachte Vertrauen meines damaligen Direktors bin ich sehr dankbar. Es war meine erste Arbeitsstelle mit so viel Verantwortung.

In Litauen hatte ich bis 1958 keinen Kontakt zu irgendeinem Verwandten in Deutschland. Es gab niemanden der mir einen Kontakt nach Deutschland vermitteln konnte. Keiner wollte sich mit meiner Lebensgeschichte befassen.
1958 erhielt ich dann ganz überraschend einen Brief von meinem Onkel Herbert Roepschläger aus Deutschland. Es war für mich eine freudige Überraschung und doch unfassbar. Wie diese Verbindung zustande kam, konnte ich nur erahnen. Ein deutschstämmiger Litauer aus meinem Arbeitskreis konnte 1958 nach Deutschland ausreisen. Er hatte meine Adresse und ich bat ihn nach meinen Verwandten zu suchen. Ich konnte ihm aber nicht danken, weil er nicht mehr zu finden war. Der Briefwechsel mit meinem Onkel war schwierig, da ich seine in Deutsch geschriebenen Briefe nicht lesen konnte. Die Briefe waren oft sechs Wochen unterwegs. Teilweise waren einige Passagen geschwärzt.  Die Post wurde also kontrolliert. So konnte ich dem Brief keine kritischen Bemerkungen anvertrauen.
Dann erhielt ich eine Einladung von meinen Verwandten aus Deutschland.
Ich hatte keine Papiere, aus denen hervorgeht, dass ich Deutscher bin. Außerdem konnte ich weder deutsch sprechen noch lesen. Mein damaliger Chef (Direktor vom Waisenhaus) riet mir in Litauen zu bleiben. Verwandte sind nur Verwandte und keine Eltern. In Deutschland würde ich nur Schwierigkeiten haben. Er reichte mir eine Zeitung mit einem Artikel, der folgendem Inhalt hatte. Den Menschen in der BRD gehe es sehr schlecht. Deutschland ist ein vom Krieg total zerstörtes Land und die Menschen hungern. Wohnraum ist ebenfalls nicht zu finden. Es gelang mir nicht genaueres über Deutschland zu erfahren.

Zu dieser Zeit beherrschte der Geheimdient die Politik in der Sowjetunion. So erfuhr ich  auch nicht die Wahrheit über Deutschland.
Ich wusste nicht was ich tun sollte.

Wir wohnten zu dieser Zeit in Wischwill. ca. 5 km entfernt gab es einen Wald. Dort begann das russische Militär Raketenabschussbahnen zu bauen. Alles war streng geheim. Die Bauarbeiten wurden unter strenger Aufsicht verrichtet.
1967  zogen wir von Wischwill nach Jurbarkas. Ich wollte mir, dank meiner guten Ausbildung, eine neue Arbeit suchen und fand einen landwirtschaftlichen Betrieb mit ca. 250 Mitarbeitern. Dieser Agrar-Service-Betrieb hatte fünf Abteilungen und war für den ganzen Kreis Jurbarkas zuständig. Der Betrieb musste alle Kolchosen und A.C. Betriebe mit Ersatzteilen, Baumaterial, Düngemitteln u.a. versorgen und beliefern. Zuerst arbeitete ich in unterschiedlichen Brigaden. Danach wurde ich in die Transport-Expeditions-Abteilung  versetzt. Als Garagen-Leiter (Meister) hatte ich über 50 Autos, verschiedener Typen, aus allen Abteilungen zu betreuen. Ein Mangel an Ersatzteilen, Reifen u. a. war immer groß.
Die Mitarbeiter die dort arbeiteten waren nicht alle gut ausgebildet, oder sie waren zu jung und ohne Erfahrung. Es fiel mir schwer mit Ihnen in guten Kontakt zu kommen. Der Job war schwer und ich musste oft bis zu 12 Stunden arbeiten. Am 28. April 1971 wurde unser zweiter Sohn Saulius geboren. Er war gut in der Schule und studierte an der Universität in Vilnius Geologie mit einem guten Diplom-Abschluss. Saulius ist jetzt verheiratet und hat 3 Kinder. Er wohnt mit seiner Familie weiter in Vilnius.

In den Jahren 1970 bis 1990 ging es uns verhältnismäßig gut. Ich hatte immer noch große Sehnsucht nach meinen Verwandten in Deutschland. Ich erfuhr von meinen zwei Tanten und mehreren Cousinen. Ich hatte weiter den Wunsch sie kennenzulernen. Aber dies war wohl nur ein Traum, der nicht in Erfüllung gehen konnte.

Gottlob kam es aber anders! –  Keiner glaubte, dass die kommunistische Sowjet-Herrschaft so plötzlich und schnell zerfallen würde. Endlich mussten wir Deutsche uns nicht mehr verstecken. Der „Eiserne Vorhang“ tat sich auf. Die Menschen der Baltischen Länder schöpften neue Hoffnung. Wir wurden frei und unabhängig. Jetzt erfuhren wir, dass sehr viele „Wolfskinder“ ihre Herkunft verschwiegen oder verleugnen mussten.

Erst 1991 gab es einen Zeitungsartikel über die Wolfskinder. Wir konnten uns in Klaipeda dem früheren Memel melden. 1991 kam es dann zur Gründung des Vereins „Edelweiß-Wolfskinder“.  Zum 1. Gründungstreffen kamen aus ganz Litauen über 80 Menschen nach Klaipeda. In meinem Wohnkreis wohnten 16 Wolfskinder. Keiner hat vom anderen gewusst. Die Angst war groß, denn man wusste noch nicht wie es weitergehen sollte.
Zu dem Verein „Edelweiß“ gehörten 260-280 deutsche „Wolfskinder“. Nur 40-60 Kinder hatten einen Abschluss auf einer Berufs- oder Mittelschule sowie einem Technikum.

Es gab auch Fälle, wo mehrere Geschwister bei einer litauischen Familie untergekommen waren. Die Wolfskinder waren nach dem 2. Weltkrieg ausgehungert, verlaust und in Lumpen gekleidet. Es tat gut, dass barmherzige Litauer diese armen, verlassenen Kinder aufnahmen.  Die Kinder bekamen litauische Namen und ihre Geburtsdaten wurden verändert.
Auch ich hatte meine Herkunft verschleiert.

Eine deutsche Journalistin  –  Ruth Kibelka  –  hat nach der Wende die Geschichte der Wolfskinder erforscht und in dem Buch  „Wolfskinder: Grenzgänger an der Memel“ veröffentlicht.
Mit großer Zurückhaltung und Einfühlungsvermögen hat sie so manche Geschichten über Wolfskinder erfahren und in ihrem Buch veröffentlicht. Das Buch kam 1996 in Berlin heraus. In den Jahren 1948 bis 1952 wurden über 5000 Wolfskinder registriert. Einige wurden schon sehr früh mit Güterzügen nach Deutschland (DDR) gebracht.

Durch den 2. Weltkrieg und seine Folgen haben wir Wolfskinder viele, große Nachteile gehabt. Unser Leben bestand aus Entbehrungen und großer Not. Allein gelassen von der Welt – wir konnten doch nichts dafür!  Wie kann ein Kind das nur verstehen? Ich hatte doch keine Schuld! Auch als Erwachsener fühlte ich mich noch immer benachteiligt. Es gab keine Entschädigung von der BRD für diese Zeit. Manchmal denke ich wir sind nur eine Last für Deutschland. Wir Wolfskinder verloren alles – Eltern, Geschwister, Verwandte, die Muttersprache, alles Hab und Gut und nicht zuletzt auch unsere Heimat.

1992 kam der damalige Bundestagsabgeordnete Freiherr Wolfgang von Stetten nach Kaunas /Litauen. Er und seine Begleiter wollten die Geschichte der Wolfskinder kennen lernen. Es war damals kurz vor Weihnachten. Die Wolfskinder erhielten kleine Geschenke und auch etwas Geld. Dem Verein „Edelweiß“ wurde ein kleiner Bus geschenkt. Wolfgang von Stetten versprach jedem,  der es wollte,  zu helfen. Später erfuhr ich, dass er vielen bei der schwierigen deutschen Bürokratie geholfen hatte. Er vereinbarte auch mit der Litauischen Regierung Vergünstigungen für uns Wolfskinder, wie zum Beispiel vergünstigte Fahrpreise und 100 Euro.
Von 1993 bis 1997 kam der Sprecher der Landsmannschaft Ostpreußen, Herr Wilhelm von Gottberg nach Litauen und brachte Geldspenden für die Wolfskinder. Jede Spende wurde mit Freuden entgegen genommen.
In Litauen hatten wir schon Mühe mit der sowjetischen Bürokratie. In Deutschland war es für uns Wolfskinder noch schlimmer.
Wir Wolfskinder hatten unsere Muttersprache verlernt. Fast alle Wolfskinder – ob Mann oder Frau – waren in Litauen verheiratet. Wir waren sehr mit unseren neuen Familien verbunden. Ein Neuanfang war nur schwer zu vollziehen. Nicht jeder hatte noch lebende Verwandte in Deutschland. Das Alter war dann auch der Grund, warum so viele einen Umzug nach Deutschland scheuten. Die Sprache war ein wichtiger Grund in Litauen zu bleiben.

Meine Frau und ich haben aber dank der Hilfe von Verwandten und Freunden einen Umzug nach Deutschland gewagt. Es zeigte sich auch wie wichtig es war, dass ich noch vor Kriegsende für ein Jahr zur Schule gehen konnte. Ich war ein fleißiger Schüler.

Zu Weihnachten 1991 bekamen wir von Landsleuten aus Deutschland  Angelika und Wolfgang Drews (aus Stade) eine Einladung nach Deutschland. Wir haben uns sehr darüber gefreut. Diese Reise war für uns ein großes Erlebnis und auch ein Abendteuer.
Wir fuhren mit dem Zug von Vilnius über Berlin nach Hamburg. Dort wurden wir von unseren Landsleuten herzlich empfangen. Wir  konnten nur staunen, was in 24 Stunden so alles passieren kann.

Im Vorfeld hatten wir uns schon über Deutschland informiert. Es übertraf aber alle unsere Erwartungen. Wie in einem schönen Traum.

Zwischen1990 und 1995 bekamen wir in Litauen Besuch aus Deutschland. Als erste besuchte uns meine Cousine Hildegard Kulsch (geb. Blumenthal) mit ihrem Sohn Frank. Sie besuchten uns auch noch ein zweites Mal.  Zusammen fuhren wir mit meiner Frau Aldona in meine alte Heimat nach Groß Hoppenbruch sowie auch nach Follendorf. In den Jahren 1990 und 1991 gab es keine großen Kontrollen an der Grenze zwischen Litauen und dem Gebiet Kaliningrad.
Wir redeten wenig bei der Kontrolle und so wurden wir nicht groß kontrolliert.

1992 und 1993 war ich oft in meiner alten Heimat. Ich besuchte den Friedhof in Ludwigsort. Dort waren viele Gräber gewaltsam geöffnet und die Gebeine der Toten lagen herum. Wir versuchten etwas Ordnung zu machen und räumten auch umgestürzte Bäume weg. Meine Söhne und auch meine Freunde haben mir geholfen. Für meinen Vater und meinen Opa habe ich zur Erinnerung ein Kreuz aufgestellt. Sie wurden ja hier im Jahr 1947 beigesetzt.

Im Jahr 2000 wurde mir als Anerkennung von der Kreisgemeinschaft Heiligenbeil die silberne Ehrennadel verliehen.

 

Jetzt freue ich mich immer wieder, wenn ich nach dem ehemaligen Ostpreußen, dem
- heutigen Oblast Kaliningrad – fahre. Ich besuche dann Ludwigsort und die Gedenkstätte meiner Lieben. Meine Narben werden nicht verheilen, aber ich glaube meinen Weg gegangen zu sein. Ich habe eine liebe Frau und gute Kinder.
 
Endlich! 1998 konnten meine Frau und ich nach Deutschland übersiedeln. Wir zogen nach Bad Schwartau und lernten noch einige ostpreußische Landsleute kennen.
Kurt Unruh aus Wolitta/Ostpreußen war einer von Ihnen. Er wohnte in Stockelsdorf und hat uns viel geholfen. Er hat uns auch moralisch sehr unterstützt. Wir wurden zu seinem Geburtstag und auch zu vielen anderen Veranstaltungen eingeladen. Wir konnten ihm vertrauen. Er war immer hilfsbereit. Ich möchte mich bei Kurt Unruh ganz herzlich bedanken.
Wir haben in Bad Schwartau eine schöne Wohnung gefunden und uns gut eingelebt.
Unsere Kinder sind in Litauen geblieben. Wir haben trotz der Entfernung eine gute Beziehung zu ihnen.
Wir treffen uns zwei Mal im Jahr und machen in Litauen unseren Urlaub. Es sind immer zwei Monate. Eine längere Zeit ist leider wegen der Behörden nicht möglich.
Unsere Söhne und ihre Familien haben uns auch schon einige Male in Deutschland besucht.
Meine Söhne freuen sich, dass es uns gesundheitlich gut geht. Nun können wir In Deutschland unseren wohlverdienten Ruhestand genießen.
Ganz herzlich möchte ich mich bei meinen Verwandten der Familie Bortz, bei Kurt Unruh und Heinz Krauskopf, sowie Marie-Theresia Bordfeld und allen Landsleuten die uns sehr geholfen haben bedanken. Da uns schon viele gute Landsleute verlassen haben, bin ich manchmal ein bisschen traurig.
Wir wissen aber, dass keiner für immer auf dieser Welt bleiben kann.
Ich danke Gott für seine Güte, dass er mein Leben doch noch so gut gestaltet hat.

Bad Schwartau,  den 02.03.2013


 

Mein Dank gilt auch meinen Landsleuten Frau Eva Droese und Günter-Neumann-Holbeck, die mich darin bestärkt und mir geholfen haben, meine Flucht und mein Schicksal niederzuschreiben. Auch möchte ich mich bei Frau Sigrid Petzold für die Gestaltung und die Niederschrift bedanken.

 

Die Ausgewiesenen

-  von Ernst Wiechert  -

Wir hatten einst ein Haus, und das Haus verdarb.
Wir hatten eine Heimat, und die Heimat starb.
Man trieb uns, wie man Vieh mit dem Stocken trieb,
O  hilf uns, liebe Maria.

Der Vater ist gefangen im fremden Land.
Die Mutter ist begraben im fremden Land.
Wir haben einen neuen Vater, der heißt der Tod,
O hilf uns doch, liebste Maria.

Nun sind wir in der Fremde und sehen uns um.
Starrt jeder uns an – wie taub, wie stumm.
Wir  stehen vor den Türen und klopfen an.
Ach, wird uns denn nirgends aufgetan?
Erbarme Dich doch, Maria.

Gott webt uns ein Röckchen aus Tränen und Gram.
Mit Fäden aus Hunger, mit Fäden aus Scham.
Das  Schifflein webt Leid, und Leid, und Leid.
O web uns ein bisschen Freude ins Kleid.
O web uns, liebste Maria.

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