Balga im Wandel der Jahreszeiten
von Eva Droese – Kiel, 30.01.2013
Das geschichtsträchtige, traumhaft gelegene Dorf Balga am Frischen Haff ist und bleibt trotz aller Zerstörung unsere Heimat. Die Erinnerungen an ein geborgenes Elternhaus, eine glückliche Kindheit und Jugendzeit, an Freude, Glück und Trauer sind unauslöschlich in unseren Herzen.
Die schon etwas wärmende Märzsonne schien auf das im Herbst gepflügte Feld und man sah von den braunen Erdschollen kleine Wölkchen aufsteigen, die Erde dampfte, sagte man, und es war ein Anzeichen des kommenden Frühlings. Wir Menschen warteten schon so darauf, der Winter war lang und kalt bei uns in Ostpreußen. Sobald wir Kinder den nahenden Frühling spürten, wollten wir nicht mehr in unseren warmen Wintersachen spielen und bettelten bei der Mutter um das Kleid mit kurzen Ärmeln und kurze Strümpfe wollten wir anziehen. Der Frühling und die Sonne beflügelten das Leben und Treiben. Die Natur erwachte, es fing an zu grünen und zu blühen und wir Kinder begannen in den Pausen mit unseren altbekannten Kreisspielen. Die Beete des Schulgartens wurden aufgeteilt und fleißige Schüler streuten Saat in die Erde und pflegten dann ihre Beete. Nachmittags spielten wir mit unseren Murmeln, oder mit dem Ball: „Kaiser, König, Edelmann“. Die Jungens bevorzugten den Schlagball.
Für die Bauern begann die Feldbestellung und überall sah man fleißige Menschen, die in Feld und Garten arbeiteten.
Wir Kinder probierten schon ab und zu mit bloßen Füßen die Wassertemperatur des Haffs, denn die Sonne schien immer wärmer und wir warteten ungeduldig auf die Badezeit. Diese Zeit war besonders für uns die schönste Zeit. In den Ferien packte die Mutter das Körbchen mit Essen und Trinken und wir gingen morgens runter zum Haff, wo wir uns tagsüber mit Baden und Spielen die Zeit vertrieben. Oft lagen wir an der Quelle, sie kam aus einem Haffberg und wir labten uns an dem eiskalten und sauberen Wasser. Die reifen Brombeeren, die in großen Mengen an den Hängen der Strandhalle wuchsen, schmeckten besonders gut. Wir gingen runter, das bedeutete, daß unser Dorf oberhalb der Steilküste lag, geschützt durch einen Gürtel Misch- und Kiefernwald. Die sich dadurch ergebenden Haffberge waren ein beliebtes Ziel und boten einen herrlichen, weiten Ausblick über das Haff. Die Frische Nehrung zog sich wie ein dunkler Streifen am Horizont entlang und wirkte geheimnisvoll. Teile von Pillau konnte man erkennen und Segelboote sowie Fischerkähne tummelten sich auf dem Wasser.
Ein großes Vergnügen für uns Kinder war der Samstagabend, wenn das Haff ruhig, ohne Wellengang, zum Baden einlud. Das Baden war durch das flache Wasser gefahrlos, besonders für Nichtschwimmer. Wir freuten uns immer, wenn unsere Mütter mit zum Haff kamen, denn dann begann das große Bade-Vergnügen. Mütter und Kinder seiften sich ein, alles wurde beim Baden abgespült und wir waren wieder sauber. Diese Prozedur hätten wir garnicht nötig gehabt, denn wir lagen doch ständig im Wasser, aber zum Sonntag mußte alles in Ordnung sein.
Das Leben im Dorf bestand aus Fleiß und Arbeit, aber der Sonntag hatte seine eigenen Regeln. Der Kirchgang Sonntag um 09.30 Uhr, war bis auf kleine Ausnahmen die Regel, genau wie der sonntägliche Spaziergang. Nach dem Mittagessen ging man in aller Ruhe zum Friedhof, schaute nach den Gräbern und traf Bekannte. Nicht weit entfernt grüßte uns schon die massige Burgruine, uns war sie vertraut, aber Ausflügler und Sommergäste besuchten gerne das darin befindliche Museum und nutzen die Aussicht im obersten Stockwerk, um weit ins Land sehen zu können. Unser Weg führte uns über den Schlossplatz, wir gingen um den Signalberg herum und vorbei an dem Signalmast, an dem bei Sturm die Sturmwarnungskörbe hochgezogen wurden und kamen an den Cauersteig, der in vielen Treppenstufen hinunter zum Haff führte. Hier war das Haff durch Geröll und Mauerreste, die in den Jahrhunderten heruntergerollt waren, sehr flach und wir Kinder nutzten diese landschaftlich sehr schöne Ecke weniger. Der Spazierweg ging am Haff entlang. Wer unterwegs Durst oder Hunger hatte, konnte die Strandhalle ansteuern. Wenn man am Hohlweg angelangt war, lagerten sich hier die Spaziergänger oder gingen den Hohlweg hoch zum Dorf. Am Hohlweg standen die Geräteschuppen der Fischer und Pfähle waren aufgereiht, damit die Netze getrocknet werden konnten. Sonntags war die Badefreudigkeit wegen der Sonntagsgarderobe nicht so groß, aber Ausflügler und Kurgäste bevölkerten den Strand. Der Eismann aus Heiligenbeil war da und das Eis war bald verkauft, aber wenn unser Fischhändler mit einem voll gepackten Tablett frisch geräucherter Aale ans Haff kam, dann war im Nu das Tablett leer. Eine Reichsmark zahlte man für einen stattlichen Aal.
Die schöne Sommer- und Badezeit neigte sich allmählich dem Ende. Man sah weniger Fremde im Dorf, auch weniger Badende, denn soweit ich mich erinnere, hatten wir Kinder unsere festen Badezeiten und im September sah man kaum noch ein Kind im Wasser. Auch die Erntezeit war vorbei. Die wogenden Kornfelder waren abgeerntet und das Getreide lag in den Scheunen. Der Wind ging über die Stoppelfelder und die Kinder kamen mit ihren Drachen heraus. Herbststürme trieben das Haff oft zu hohen Wellen auf, so daß man keinen Fuß ins Wasser stellen konnte, der Sog zog jeden hinein. Kein Boot, kein Mensch wagte es, bei solchen Stürmen auf dem Haff zu sein. Nach dem Sturm waren wir wieder am Haff und die Bernsteinsuche begann. Wir zerpflückten den grünen, angeschwemmten Tang und unsere Beute war oft beträchtlich. Ein Kästchen voll Bernstein, kleine und größere Stücke, hatten wir immer zu Hause.
Es war Herbst und wieder Erntezeit. Kartoffeln und Rüben mußten eingebracht und sorgsam für die Winterzeit eingelagert werden. Damals, in den dreißiger Jahren, war die Technik noch nicht so weit fortgeschritten wie heute und die Bauern mußten für Winter und Frühjahr vorsorgen. Große und tiefe Mieten wurden gegraben und die Erdfrüchte mit Stroh und viel Erde zugedeckt. Im Frühjahr wurden diese Mieten dann geöffnet, es kamen die gut erhaltenen Rüben und Kartoffeln zum Vorschein und die Versorgung war wieder gesichert. Wenn man bedenkt, daß diese Art der Vorsorge bei unseren tiefen Minusgraden, im Verhältnis zu allen neuen technischen Einrichtungen ausreichend war, dann konnte man stolz sein auf unsere fleißigen und erfindungsreichen Landwirte. Überhaupt wurde für den kommenden Winter für viele Dinge Vorsorge getroffen. Die Hausfrauen sandeten in weißem Sand Karotten ein, die sich mehrere Monate hielten, es wurde geschlachtet, bestimmtes Fleisch gepökelt und danach geräuchert. Besonders darauf geachtet wurde, daß genügend Brennmaterial vorhanden war, zum Kochen und Heizen. Fast vor jedem Haus standen säuberlich zu Kleinholz geschlagene und gelegte Holzkegel. Feste Feuerung, bestehend aus Kohlen und Briketts, wurde vom Kohlenhändler aus Heiligenbeil geholt. Auch die Gänse und Enten mußten ihr Leben lassen, damit genügend Nahrung für den Winter vorhanden war.
Allmählich zog der Oktober ins Land und es war nicht ungewöhnlich, schon gegen Monatsende Minusgrade und manchmal auch Schnee zu haben. Die Kinder hatten auch wenig Lust, bei dem ungemütlichen Wetter draußen zu spielen, sie warteten auf den Winter, der ihnen mit dem dann zugefrorenen Haff wieder tolles Eisvergnügen bescherte. Das Dorf lag unter einer Schneedecke und man hörte Schlittengeläute, die Wagen hatte man größtenteils untergestellt, die Kachelöfen wurden tüchtig eingeheizt und die Bratäpfel, die in der Röhre schmorten, dufteten herrlich. Nun probierten die Kinder schon auf unserem kleinen Katzenteich ob das Eis die richtige Stärke hatte. Nicht lange danach lag auf dem Haff eine glitzernde Eisdecke und bald, wenn alles sicher war, wurden die Schlittschuhe vom Boden geholt und das Vergnügen begann. Stundenlang fuhren wir in Kreisen und Geraden bis wir völlig erfroren nach Hause gingen. Die kalten Hände schafften es kaum, die Schlittschuhe mit einem kleinen Drehschlüssel von den Schuhen zu drehen. Zu erwähnen wäre noch, daß die Balgaer Fischer auch im Winter Fischfang betrieben. Mit größeren Schlitten und langen Stangen fuhren sie, auch mit angeschnallten Schlittschuhen, weiter auf das Haff. Sie schlugen Löcher in das Eis, die Netze wurden ins Wasser gebracht und durch schnelles Bewegen der Stangen entstanden laute Geräusche, die die Fische anlockten. Im Dorf sagte man: „Die Fischer bullern.“ Nicht zu vergessen ist auch das Schlittenfahren auf der langen Rodelbahn von der Jugendherberge bis aufs Haff. Die Trainingshosen, die man damals beim Spielen trug, waren durch den Schnee und die Kälte bis auf Kniehöhe steif und vereist und die gefrorenen Schnürsenkel ließen sich kaum lösen, aber wir Kinder haben jeden Tag genossen.
Wer erinnert sich nicht an das „Bommelschlitten fahren?“ Wir hatten alle unseren Spaß, wenn die letzten Schlitten, durch das Schleudern der langen Schlange, immer wieder umkippten.
Die Tannenbäume trugen schwer an der weißen Schneelast, aber alles sah so friedlich und unberührt aus und wenn am Heilig Abend in der Dunkelheit die Glocken unserer alten Ordenskirche erklangen, dann öffneten sich unsere Herzen und eine große Dankbarkeit erfüllte uns. Alle gingen wir zum Gottesdienst und wie all die Jahre vorher, standen zwei riesige Tannen rechts und links am Altar und die Familie des Küsters stand auf Leitern, um die vielen Kerzen anzuzünden. Gestärkt durch die Predigt der „Frohen Botschaft“ gingen wir nach Hause, um Weihnachten zu feiern.
Unsere Winter waren lang und kalt und man dachte sehnsuchtsvoll an den Frühling. Hörten wir im Dorf vom Haff herauf ein Donnern und Krachen, wussten wir, daß es soweit war, denn der Seewind schob mit großem Getöse das nun schon tauende und brüchige Eis auf den Strand, wo sich die Eisschollen zu Bergen auftürmten.
Es war immer wieder ein sehenswertes Erlebnis.
Der Kreislauf der Jahreszeiten begann von Neuem und wir fieberten wieder einem neuen, unbekannten Jahr entgegen, ahnten nicht in unseren schlimmsten Träumen, daß man die seit Jahrhunderten dort wohnenden, mit der Scholle verwurzelten Menschen, für immer grausam aus der Heimat vertreiben würde.